Nicole Werner
Facilitator & Coach
Wann Partizipation zu Frust führt
Diskrepanzen beim Einbezug von Mitarbeitenden lassen Produktivität und Motivation sinken
Diesen Artikel schreibe ich für Führungskräfte, Verwaltungsräte und Geschäftsleitungen, die vor grundlegenden Veränderungen in ihren Organisationen stehen. Wer sich bewusst ist, wie Menschen und Organisationen durch Veränderungen hindurch gehen und was Fachkräfte demotiviert, kann nicht nur Produktivitätszahlen und Mitarbeitende besser halten, sondern auch sich selber einigen Stress ersparen.
Wie geht es Ihnen, wenn Ihnen jemand vorgibt, welches Ergebnis Sie anzustreben haben und auch wie Sie es zu erreichen haben, sie jedoch gar nicht wissen wozu? Zum Beispiel sagt Ihnen jemand um halb zwölf in der Nacht, Sie sollten im Zug von Zürich nach Genf fahren, aus Basel noch Leckerli (eine lebkuchenartige Spezialität aus Basel) holen und diese am nächsten Morgen um 7:30 Uhr in Genf abgeben. Wozu die Übung? Der Sinn und Zweck ist Ihnen unbekannt. Und was, wenn Sie die Leckerli in Genf am Flughafen kaufen? Sie wissen es nicht, doch wenn Sie nach 7:30 Uhr ankommen, werden Sie zur Verantwortung gezogen. (Schon ohne über Basel zu fahren gibt es keinen Zug aus Zürich, der vor 7:40 Uhr Genf erreicht.) Kommt Ihnen das irgendwie bekannt vor?
Etwa so geht es vielen Mitarbeitenden in Unternehmen. Sie sind verantwortlich für Ergebnisse, ohne ein Mitspracherecht bei Mitteln und Wegen zu deren Erreichen zu haben und ohne genau zu wissen, wozu sie tun, was sie tun. Insbesondere in Veränderungsprozessen ist es von grundlegender Wichtigkeit, dass die betroffenen Menschen wissen, wo es hingeht und wozu sie sich ins Zeug legen sollen. Geschäftszahlen allein sind ein Ergebnis, sie sind weder Sinn noch Zweck einer Organisation. Wer Mitarbeitende bei der Bestimmung von Zweck (WOZU?) und Weg (WIE?) nicht mit einbezieht, darf sich heutzutage nicht wundern, wenn Motivation und Produktivität in den Keller gehen. In einem komplexen Umfeld sind jene Organisationen erfolgreich, welche die Betroffenen zu Beteiligten machen.
Das war einmal anders. Im letzten Jahrhundert waren noch mehr Mitarbeitende auf den unteren Stufen der Leiter der Partizipation (s. Titelbild) zufrieden, wenn sie mit der Ausführung zugewiesener Aufgaben (Anweisungen) ihren Lebensunterhalt sichern konnten. Heute haben gut ausgebildete Fachkräfte vermehrt eigene Ideen und Vorstellungen. Ihnen reicht es auch nicht, nur angehört oder informiert zu werden zu Entscheidungen, die sie zwar nicht mittragen können, deren Konsequenzen sie jedoch mitverantworten sollen. Zudem sind Unternehmen für ihren Erfolg in einer komplexen Welt auf die kollektive Intelligenz und Kreativität ihrer Mitarbeitenden angewiesen.
Gut ausgebildete Fachkräfte gehen heutzutage nicht mehr in erster Linie arbeiten um Geld zu verdienen, ihre Grundbedürfnisse zu sichern und ihre Familien zu ernähren. Es geht ihnen vermehrt darum, den Sinn in ihrer Arbeit zu erkennen, selber zu besseren Lösungen beitragen und sich weiter entwickeln zu können. Unternehmenserfolge basieren auf kreativ mitdenkenden Mitarbeitenden, die Initiative ergreifen und aktiv Verantwortung für die Gestaltung der Wege zum Ziel übernehmen – also nicht nur Ausführende und Schuldige sind, wenn die Ergebnisse nicht stimmen. Oftmals sind die Manager von heute die Mitarbeitenden von gestern. Einbezug der Mitarbeitenden in unternehmerische Entscheidungen sind ihnen fremd und verunsichern sie. “Können wir das den (jungen) Leute denn zumuten?”, “Können sie das beurteilen?” oder “Dauert es nicht zu lange, wenn wir sie auch noch fragen?” sind Zweifel, die im Management auftauchen, wenn es um mehr Partizipation der Mitarbeitenden geht.
Ein Beispiel aus der Praxis
In meiner Arbeit mit einem Management-Team begegnete mir vergangene Woche wieder einmal die grosse Sorge um die Zufriedenheit der Mitarbeitenden und um den Mangel an geeigneten Fachkräften. Das Unternehmen, ein kleines KMU, das vor rund einem Jahr aus mehreren Eigentümerfirmen ausgelagert wurde, steckt also mitten in einer grossen Veränderung. Die heutigen Aktionärsfirmen beziehen heute externe Dienstleistungen durch das KMU, die sie zuvor in ihren verwaltungsähnlichen Strukturen selber erbracht hatten. Neben der strukturellen und kulturellen Veränderung schlagen «Altlasten» aus der Vergangenheit und ungleiche Lastenverteilungen unter den Aktionären auf die Gemüter.
Die langjährigen Mitarbeitenden mehrerer verwaltungsähnlicher Organisationen sind verunsichert, denn sie wurden in die neue Organisation «ausgelagert» und sollen nun in kurzer Zeit unternehmerisch denken und Verantwortung übernehmen, wo sie vor kurzem nicht einmal mitreden durften. Dieses Umdenken findet nicht von allein statt, sondern es braucht Zeit und Vertrauen. Vertrauen auf Seiten der Aktionäre, dass das Unternehmen mittelfristig profitabel wird. Und Vertrauen auf Seiten der Mitarbeitenden des KMU, dass sie nicht für Ergebnisse und Altlasten zur Verantwortung gezogen werden, für deren Entstehung sie nichts können.
Wie so oft scheint jedoch auch hier die Erwartung der Eigentümer – die Produktivität möglichst stabil zu halten – ohne dem in Transformationsprozessen üblichen temporären Produktivitätsabfall Rechnung zu tragen (schwarze Veränderungskurve in der Abbildung). Es kommen Ängste auf, die Produktivitätszahlen sind zu tief, es braucht schnell Lösungen.
Abb.: Motivation und Produktivität sinken in Veränderungsprozessen zunächst (schwarze Kurve), bevor sie langfristig steigen können. Ein höherer Beteiligungsgrad der Mitarbeitenden kann dabei helfen. Eine Diskrepanz zwischen der Beteiligung an der Bestimmung des Weges zum Erfolg (Strukturen & Prozesse) und der Beteiligung an der Verantwortung für die Ergebnisse (Produktivität & Umsatz) verlängert in der Regel die Verweildauer im Tal der Tränen.
Im «Tal der Tränen» lässt der Verwaltungsrat nun die Produktivitätszahlen der Menschen im Unternehmen engmaschig kontrollieren, weil er sich aus der Fehleranalyse eine raschere Steigerung der verrechenbaren Dienstleistungen erhofft. Faktisch erreichen die Verantwortlichen mit ihren Massnahmen das Gegenteil: Unmut sowie frustrierte und verängstigte Mitarbeitende sind die Folge von Kontrolle und Druck. Zudem eilt der lange Schatten des Firmenrufs, wie so häufig, den Ereignissen voraus und erschwert die Suche nach neuen Fachkräften.
Unternehmerisches Denken und attraktive Arbeitgeber basieren auf Beteiligung – nicht nur finanziell
Wieder zurück zur Rolle der Partizipation: Im geschilderten Fall stellen die strategischen Entscheidungsträger die Mitarbeitenden bezüglich der unternehmerischen Verantwortung – das heisst Verantwortung für Umsatz- und Produktivitätszahlen – auf die Stufe der Einbeziehung. Konkret werden die Zahlen wöchentlich geprüft und jede:r einzelne Mitarbeiter:in mit zur Verantwortung gezogen, wenn die Ergebnisse aus Sicht des Verwaltungsrates nicht stimmen. Bezüglich der Strukturen und Prozesse im Unternehmen erhalten die Mitarbeitenden zugleich lediglich Anweisungen oder Informationen von oben. Sie haben weder die Möglichkeit selber mitzuentscheiden, welche Strukturen und Prozesse zu besseren Zahlen führen könnten, noch haben sie mit nur einem Jahr ausreichend Zeit gehabt, Altlasten zu beseitigen und eine Kultur des unternehmerischen Handelns zu etablieren.
Diese Diskrepanz im Grad der Beteiligung führt zu Frust und Unmut. Hier wäre ein erster Schritt, diese Unstimmigkeiten konsequent zu beseitigen. Wer lediglich Anweisungen gibt, sollte selber die volle Verantwortung für die Unternehmensergebnisse übernehmen. Wer Mitarbeitende mit entscheiden lässt, darf ihnen auch Teile der Verantwortung für die Ergebnisse übertragen – sofern er ihnen für das Abarbeiten von Altlasten, das Umlernen und den Kulturwandel ausreichend Zeit lässt.
Durch mehr Partizipation aus dem Tal der Tränen
Es geht also darum zu entscheiden, auf welcher der Stufe der Partizipationsleiter das Unternehmen sich zu welchen Themen positioniert und nicht beliebig die Stufen zu wechseln. Unternehmen, die schon heute mit Fachkräftemangel zu kämpfen haben, sind gut beraten, die Leiter der Partizipation schrittweise nach oben zu erklimmen, um als attraktive Arbeitegeberin motivierte junge Menschen anzuziehen und damit zum Ausstieg aus dem Tal der Tränen beizutragen.
Welches Unternehmen würden Sie wählen, wenn Sie als junge, gefragte Fachkraft ihre Arbeitgeberin auswählen könnten – jenes Unternehmen, welches sie kontrolliert und bestraft, wenn Sie die vorgegebenen Ergebnisse nicht erreichen oder jenes, welches Ihnen vertraut und Sie auf dem Weg zum langfristigen Unternehmenserfolg beteiligt?
Und wie würden Sie ihren Kunden in Genf überraschen, der Sie kurz vor Mitternacht darüber informiert, dass in seinen Teamsitzungen die beste Stimmung herrscht, wenn es Lebkuchen gibt und er am kommenden Morgen gemeinsam mit seinem Team über den Vertragsabschluss mit Ihrem Unternehmen entscheiden wird?
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