Nicole Werner

Facilitator & Coach

Erste Schritte zur Implementierung von Selbstorganisation in einem Verein

Seit gut einem Jahr bin ich im Vorstand eines Vereins von Organisationsberater*innen. Dieses exklusive Netzwerk feierte vor zwei Jahren sein 25-jähriges Jubiläum. Dies war die letzte der stets im Januar stattfindenden dreitägigen Jahrestagungen, zu der sich die Mehrheit der Mitglieder physisch traf, bevor Corona unsere Begegnungsmöglichkeiten stark einschränkte.

Hier möchte ich nicht über Corona und die damit verbundenen Herausforderungen für viele Vereine, Netzwerke und Communities weltweit schreiben. Ich möchte über die Möglichkeit schreiben, die mir dieser Verein gab und gibt, den Transformationsprozess hin zu einer selbstorganisierten Community mitgestalten zu dürfen. In meiner Arbeit als Beraterin für Führungs- und Organisationsentwicklung begleite ich Menschen und Organisationen als Außenstehende. Ich weiß ob der Unsicherheiten und inneren Widerstände, die mit großen Veränderungen bei den Betroffenen einher gehen. Im Vorstand dieses Vereins habe ich nun die Gelegenheit und das große Glück, diese Gefühle als Beteiligte in der Führung erfahren zu dürfen – praktisch zu erfühlen.

In unserem vierköpfigen Vorstand hatten wir über die letzten Monate für alle Mitglieder eine aufwändige Tagung mit externen Referent*innen zum Thema Führungsentwicklung aufgegleist, als im Dezember Omikron näher kam und sich schließlich ein Großteil der Mitglieder gegen die physische Anwesenheit entschied. Einige äußerten jedoch explizit ihren Wunsch nach physischer Verbindung.

So entschieden wir im Vorstand, die ursprünglich geplante große Jahrestagung abzusagen zugunsten von Raum für verbindendes Beisammensein und allenfalls die Gelegenheit zu nutzen, um im kleineren Kreis die Führung in unserem Verein zu thematisieren; nicht zuletzt auch, weil andernfalls hohe Hotelstornierungskosten auf den Verein zugekommen wären und wir zu viert durch die mit Corona verbundenen Herausforderungen an unsere Belastungsgrenzen gekommen waren.

Einzelne Mitglieder äußerten ihre nachvollziehbaren Bedenken, ein so wichtiges Thema nur in einer kleinen Gruppe ohne größtmögliche Beteiligung anzugehen. Dennoch führten wir letzte Woche unsere dreitägige Jahrestagung in einem sehr viel kleineren Rahmen als sonst durch. Nur 14 unserer knapp 80 Mitglieder trafen sich physisch.

Transformation in mehreren Stufen

Zum Hintergrund: Während eines rund dreijährigen Transformationsprozesses zwischen 2016 und 2019 hatten die rund 80 Organisationsberater*innen und Prozessbegleiter*innen in unserem Verein entschieden, von einem Netzwerk zu einer selbstorganisierten Community zu werden. Drei Jahre, in denen gemeinsam viel über Selbstorganisation und Partizipation diskutiert und philosophiert wurde; eine Zeit, in der alle viel lernten über Methoden und Konzepte zur Umsetzung von Agilität und Selbstorganisation zugunsten von evolutionären Organisationen.

Seither bezog das Vorstandsteam einzelne Mitglieder in die zweimal im Jahr durchgeführten Tagungen mehr ein als zuvor üblich, bis hin zur Jubiläumstagung 2020, zu der fast alle anwesenden Mitglieder einen Beitrag leisteten. Was sich nicht änderte, war die interne Struktur des Vereins selber. Der vierköpfige Vorstand blieb auch nach 25 Jahren weiter an der Spitze, wenngleich mit drei neuen Köpfen im Team. Zudem war wenig transparent, was Community für die einzelnen Mitglieder bedeutete.

Ein wichtiger Aspekt von Community ist aus meiner Sicht, in wertschätzender Verbindung miteinander gemeinsam das zu gestalten und umzusetzen, wozu es die Community gibt. Mit anderen Worten: Es obliegt nicht allein dem Vorstand, die anfallenden Aufgaben zu erledigen und die Wünsche der Mitglieder zu erfüllen. Dies ist Aufgabe aller. Doch was braucht es, damit Mitglieder in die Verantwortung gehen – und das möglichst lustvoll und engagiert?

Seit nun mehr als 25 Jahren übernimmt der vierköpfige Vorstand in wechselnder Besetzung die wichtigen Funktionen der Tagungsvorbereitungen, Mitglieder- und Vereinsadministration, Buchhaltung und Kommunikation. Die damit verbundenen Aufgaben haben die Vorstandmitglieder ehrenamtlich erledigt. Darüber hinausgehende Ressourcen für die aktive Gestaltung und Veränderung der Strukturen und Prozesse des Vereins fehlten. Dieses Phänomen kenne ich als systemische Beraterin aus meiner Arbeit mit Führungskräften in Organisationen nur zu gut: Mit dem einseitigen Fokus auf das operative Schuften im System geht die gestalterische Arbeit am System unter.

« Mit dem einseitigen Fokus auf das operative Schuften im System geht die gestalterische Arbeit am System unter.»

Letzte Woche haben wir in der 14-köpfigen Gruppe der Anwesenden einen entscheidenden Schritt getan in Richtung von mehr Partizipation. Gemeinsam haben wir die interne Neustrukturierung sowie die nachhaltige Beteiligung aller Mitglieder aufgegleist, ohne inhaltlich Beschlüsse über die Köpfe der nicht Anwesenden hinweg zu fällen. Das Ergebnis: Über das kommende Jahr hinweg wird eine Arbeitsgruppe am System unseres Vereins arbeiten. Alle Vereinsmitglieder sind eingeladen, sich für die Mitarbeit in dieser Gruppe zu melden, welche Vorschläge zur Anpassung der Strukturen und Prozesse erarbeiten wird. Das Los wird darüber entscheiden, wer von den Interessierten dieser 8-köpfigen Arbeitsgruppe angehört. Wir werden lediglich darauf achten, dass mindestens ein Neumitglied dabei ist und dass Frauen und Männer paritätisch vertreten sind.

Das Ringen um die nächsten Schritte

Aus der «Position an der Spitze» durfte ich mit meinen Vorstandskolleg*innen einen zweitägigen Gruppenprozess einleiten, in den sich alle Anwesenden einbringen konnten. Es war kein externes Beratungsmandat, kein Workshop, in dem ich andere begleitete, sondern ich und wir alle waren Teil des Systems. Wir haben nicht über Modelle geredet, wie «man es tun sollte oder könnte». Partizipation und Selbstorganisation waren keine Schlagworte, sondern wir erlebten in der Gruppe unmittelbar, was dazu gehört und wie fordernd es für die Beteiligten sein kann.

Wir starteten zunächst mit einem breiten Themenspektrum, das wir aus dem Kreis der Anwesenden zur gemeinschaftlichen Bearbeitung zum Einstieg sammelten. Eines von mehreren Themen war die Führung in unserem Verein. Die Gruppe entschied am Beginn des zweiten Tages gemeinsam, andere Anliegen zugunsten dieses Themas zurückzustellen – nachdem am Vorabend bereits Fragestellungen Einzelner aus der Gruppe aufgenommen worden waren.

Nun begann das Ringen. Die einen erwarteten vom Vorstand, mehr Struktur vorzugeben, weniger loszulassen. Andere forderten uns auf, mehr loszulassen und auch physisch im Raum aus der frontalen Position in den Kreis der Gesamtgruppe zurückzutreten. Immer wieder war ich hin- und hergerissen zwischen meinen inneren und den äußeren Stimmen. Wie die anderen im Raum musste ich mich einlassen auf das, was im Moment entstand.

Wir tauchten ein in einen intensiven Prozess des Sich-Einbringen-Könnens und -Sollens, des gemeinsamen Suchens und Aushaltens von unangenehmen Gefühlen wie Ungeduld, Unsicherheit, Irritation und Spannung, wie sie in gruppendynamischen Prozessen nun einmal entstehen. Es war ein Ringen darum, wie es in dieser Gruppe weitergehen könnte und sollte.

Faktoren des Gelingens

Im Laufe des Prozesses zeigten sich mir entscheidende Faktoren des Gelingens: Eine klare Vision und eine Gruppe von Menschen, die diese Vision teilen. Ausreichend Beteiligte, die im Interesse des großen Ganzen immer wieder ihre eigenen Vorstellungen zurückstellen davon, was gerade aus ihrer Sicht das richtige Vorgehen wäre. Und die innere Kapazität, Verantwortung für die eigenen unangenehmen Gefühle übernehmen zu können und diese nicht auf andere abzuwälzen.

Als Vorstand trugen wir dazu bei, indem wir zum Einstieg die Rahmung für ein vertrauensvolles Miteinander schafften, indem wir uns selber verletzlich und angreifbar machten und indem wir aus der Steuerung gingen. Nicht zuletzt war es auch die kleine Gruppengröße, welche dies alles ermöglichte. Möglicherweise verdanken wir es also auch Omikron, dass wir nun einen neuen Weg einschlagen können.

Die Anwesenden Berater*innen kannten Tools und Methoden zur Selbstorganisation und Partizipation. Einige wenige dieser Instrumente wendeten wir tatsächlich an. In meiner Wahrnehmung war es vor allem die liebevolle Verbundenheit untereinander, die es uns ermöglichte, uns uns gegenseitig immer wieder zuzumuten und in der intensiven Zeit mit Irritationen und Spannungen zu einem Wunder vollen und fruchtbaren Ergebnis zu kommen.

« In meiner Wahrnehmung war es vor allem die liebevolle Verbundenheit untereinander, die es uns ermöglicht hat, uns uns gegenseitig immer wieder zuzumuten…»

Am Ende eines intensiven zweiten Tages waren wir alle erschöpft. Nicht nur die Anwesenden aus dem Vorstand waren erleichtert und glücklich darüber, dass «der Paradigmenwechsel nun eingeläutet ist», wie es einer der Beteiligten später in der offiziellen virtuellen Mitgliederversammlung formulierte.

Ich bin unbeschreiblich glücklich über und dankbar für diese Lern- und Entwicklungsgelegenheit. Albert Einstein wusste: «Lernen ist Erfahrung. Alles andere ist einfach nur Information.» Es ist ein großes Geschenk für mich, als normalerweise außenstehende Beraterin selber erfahren zu dürfen, was es bedeutet, an der Spitze einer Organisation Macht abzugeben und Verantwortung zu teilen.

Der Weg ist steinig, es gibt böigen Gegenwind, Spannungen und Kritik, und es ist für alle Mitglieder herausfordernd – wie eine Hochgebirgstour. Doch nach den Erfahrungen der letzten Woche bin ich überzeugt, es lohnt sich – der Blick vom Gipfel wird uns belohnen. Durch das zukünftige Verteilen der Funktionen auf die ganze Community können wir die kollektive Intelligenz der Vereinsmitglieder anzapfen. Nun entsteht Raum für die Arbeit an den Strukturen und Prozessen unseres Vereins.

Ein langjähriges Mitglied sagte mir zum Abschluss: «Das war eine der besten Jahrestagungen, die ich in den vielen Jahren erlebt habe.» Das macht mich glücklich und ja, ich gebe es zu, auch ein wenig stolz.