Konflikte sind Chefsache

Wiederholt kontaktieren uns HR-Verantwortliche oder Führungskräfte und fragen um eine Mediation oder ein Coaching an für Mitarbeitende, die untereinander einen Konflikt haben. Häufig steckt dahinter Unklarheit oder gar Unsicherheit darüber, wer für welchen Konflikt in einer Organisation zuständig ist. Wir möchten hier für etwas mehr Klarheit sorgen.

Führung bedeutet weder willkürliche Machtausübung noch Unterdrückung gegen unten in der Hierarchie. Führungskräfte sind Koordinator:innen der Zusammenarbeit und Dienende ihrer Mitarbeitenden. Als solche sind sie zuständig für Konflikte.

Die häufigsten Führungsfehler, die wir in diesem Zusammenhang beobachten, sind:

Unklare Strukturen und Funktionen: Es kommt vor, dass zwei Führungskräfte für einen Mitarbeitenden zuständig sind, etwa, wenn zwischen personeller und fachlicher Führung unterschieden wird. Dabei ist oft die Abgrenzung von zwei Aufgabengebieten unklar. Manchmal ist überhaupt nicht geregelt, wer wen führt. In solchen Fällen kommt es häufig zu Konflikten.

Schonung: Einige Führungskräfte tun sich schwer damit, ihre Mitarbeitenden mit der Wahrheit, wie zum Beispiel schlechte Leistungen, geringe Teamfähigkeit oder unangemessenes Verhalten, zu konfrontieren. Vordergründig wollen sie ihre Teammitglieder schonen oder keine Macht ausüben. In Wirklichkeit fürchtet die Führungskraft häufig mehr die Reaktion der Mitarbeitenden und möchte sich selber durch das Delegieren des Konflikts schonen. Wir haben dafür ausdrücklich Verständnis, denn die meisten Führungskräfte sind nicht darin geschult, Konflikte souverän zu managen.

Verletzte Hierarchiespielregeln: Sehr häufig ist die Verletzung von Hierarchiespielregeln Ursache für eine dysfunktionale oder erschwerte Zusammenarbeit.

Zum Umgang mit Konflikten und Hierarchiespielregeln

Einige typische Konflikte und Schwierigkeiten in der Zusammenarbeit können durch Beachtung der Hierarchiespielregeln vermieden werden. Grundsätzlich gilt die Regel: Streiten Mitarbeitende auf einer Ihnen unterstellten Hierarchiestufe, sind Sie als Chef:in für den Konflikt verantwortlich. Gelingt es Ihnen nicht, den Konflikt zu managen, ist professionelle Unterstützung von aussen durch die Ihnen übergeordnete Führungskraft oder durch eine extern begleitete Mediation legitim und zielführend. Als Führungskraft sind Sie jedoch für den Konflikt Ihrer Mitarbeitenden zuständig und dafür verantwortlich, eine aussenstehende Person hinzuzuziehen. In den allermeisten Fällen sind Sie dann auch am Gespräch zur Konfliktklärung mit Ihren Mitarbeitenden beteiligt.

Es gilt stets das Prinzip: Wenn auf einer Hierarchiestufe keine Einigung erzielt werden kann, dann ist die nächst höhere Hierarchiestufe verantwortlich und wird mit einbezogen, bis der Konflikt geklärt ist. Können die Führungskräfte auf der nächsten Hierarchiestufe die Sache auch nicht untereinander klären, wird weiter eskaliert – so lange, bis es auf der höchsten Hierarchiestufe nur noch eine zuständige Führungskraft gibt, die dann für die Klärung verantwortlich ist. Konflikte sind Chefsache!

Konflikte und kollegiale Führung ohne explizite Hierarchie

Sie haben Konflikte in der Geschäftsleitung oder in einem Team mit kollegialer Führung? Wenn alle Personen im Team hierarchisch gleichgestellt sind, ist der Konflikt Sache des gesamten Teams – auch, wenn vordergründig nur zwei Parteien streiten. Gibt es im Team eine hierarchisch höher gestellte Person (z.B. Unternehmenseigentümer) oder eine Leitungsfunktion, ist diese für die Klärung des Konflikts verantwortlich – und somit auch dafür, eine externe Person für die Mediation beizuziehen.

Wir hoffen, dieser Artikel hat Ihnen geholfen, Ihre Konfliktsituation besser einzuschätzen. Bei Fragen zu Ihrer Konfliktsituation wenden Sie sich gern direkt an uns:

Nicole Werner (Mediatorin, Klärungshelferin), Tel.: +41 76 430 94 88

Dialogische Führung

DIALOGISCHE FÜHRUNG

VON WILLIAM N. ISAACS

ursprünglich veröffentlicht im Februar 1999 in
The Systems Thinker, Pegasus Communications
Übersetzt und überarbeitet von Nicole Werner mit Unterstützung von DeepL.com

Als Monsanto und American Home Products ihre geplante Fusion 1998 auflösten, lag das nicht an mangelnden strategischen oder marktbezogenen Synergien oder an der Einmischung der Regulierungsbehörden. Einem Bericht der New York Times zufolge scheiterte das Geschäft “an einem unüberwindbaren Machtkampf zwischen den Vorsitzenden der beiden Unternehmen. . .” (The New York Times, 14. Oktober 1998).

Pannen in der menschlichen Interaktion und Kommunikation spielen eine zentrale Rolle im Organisationsleben. Im Fall von Monsanto und American Home Products hatten die CEOs der beiden Unternehmen sehr unterschiedliche Führungsansätze. Der eine verbrachte seine Mittagspause damit, mit den Mitarbeitern Basketball zu spielen. Der andere weigerte sich, in den neuen Hauptsitz des Unternehmens umzuziehen, und zog es vor, mit den wichtigsten Mitarbeitern per E-Mail in Kontakt zu bleiben. Die beiden Führungskräfte begannen allmählich, die Motive und Schritte des anderen in Frage zu stellen. Als zum Beispiel einer der beiden Vorsitzenden einen Kandidaten für den Posten des Finanzvorstands vorschlug, verbreitete der andere ein Memo, in dem er behauptete, dass dieser Mann die Stelle niemals ausfüllen würde. Jeder hatte das Gefühl, dass der andere ihn und das Unternehmen untergrub. Sie erwiesen sich schließlich als unfähig, zusammenzuarbeiten, und die Fusion scheiterte.

Manchmal zeigen auch scheinbar erfolgreiche Fusionen schnell Anzeichen von Belastung. Acht Monate nach ihrem Zusammenschluss entließ die Citigroup, der neue Zusammenschluss von Travelers Group und Citicorp, James Dimon, den Mann, der als Friedensstifter zwischen den beiden Co-Chefs des Unternehmens fungierte und als dessen Erbe angesehen wurde. Dimon war weithin geachtet; sein Abgang war nicht auf schlechte Leistungen zurückzuführen, sondern, wie ein Manager es ausdrückte, auf “Unternehmenspolitik”.

Später befragte Führungskräfte sagten, dass der zusammengebrochene Deal zwischen Monsanto und American Home Products “nicht im besten Interesse der Aktionäre” gewesen sei und dass Dimons überraschender Abgang “das Beste für das Unternehmen war”, doch diese Art von Gerede verdeckt ehrlichere Berichte über die Geschehnisse. Berichten zufolge gerieten die Führungskräfte in jeder dieser Situationen in unangenehme Konflikte über eine Reihe von Sachfragen: die letztendliche Kontrolle in einem “Co-CEO”-Szenario, die Mitgliedschaft in wichtigen Führungsteams und der Zeitplan für die Integration unterschiedlicher Kulturen und Geschäftsbereiche. Letztendlich gelang es diesen Personen nicht, einen Weg zu finden zu reden und effektiv zusammenzudenken, um diese schwierigen Fragen zu lösen.

Auch wenn wir nicht alle mit angespannten oder gescheiterten milliardenschweren Unternehmensfusionen zu tun haben, sind wir wahrscheinlich mit solchen Kommunikations- und Vertrauensschwierigkeiten und deren dramatischen Auswirkungen auf die Unternehmensleistung vertraut. Wie können wir also ein Umfeld schaffen, in dem diese Schwierigkeiten in Erfolge umgewandelt werden können?

In diesem Artikel wird untersucht, wie “dialogische Führung”, ein Ansatz, der sich aus den Kernprinzipien des “Dialogs” entwickelt hat, zur Schaffung von Umgebungen führen kann, die die Fragmentierung auflösen und die kollektive Weisheit der Menschen zum Vorschein bringen.

Vier Handlungsfähigkeiten für dialogische Führungspersönlichkeiten

Die vier oben erwähnten Qualitäten einer dialogischen Führungskraft spiegeln sich in vier verschiedenen Arten von Handlungen wider, die eine Person in jedem Gespräch ausführen kann. Diese Handlungen wurden von David Kantor, einem bekannten Familiensystemtherapeuten, identifiziert. Kantor geht davon aus, dass manche Menschen bewegen (move) – sie initiieren Ideen und geben die Richtung vor. Andere folgen (follow) – sie vervollständigen das Gesagte, helfen anderen, ihre Gedanken zu klären, und unterstützen das Geschehen. Wieder andere stellen infrage (oppose) – sie stellen das Gesagte in Frage und hinterfragen seine Gültigkeit. Und wieder andere beobachten (bystand) – sie nehmen aktiv wahr, was vor sich geht, und geben einen Einblick in das Geschehen.

In jedem Gespräch gibt es Menschen, die etwas bewegen, d.h. die Ideen einbringen. Andere folgen – sie ergänzen das Gesagte und unterstützen das Geschehen. Wieder andere stellen infrage – sie stellen das Gesagte in Frage. Und wieder andere beobachten – sie bieten eine Perspektive auf das, was geschieht.

Die Beobachtung der Handlungen von Menschen kann einem enorme Informationen über die Qualität ihrer Interaktionen geben und darauf hinweisen, ob sie sich in Richtung eines Dialogs oder einer Diskussion bewegen. In einem dialogischen System kann jede Person zu jeder Zeit eine der vier Aktionen ausführen, auch wenn sie eine bevorzugte Position einnimmt, kann sich jede Person bewegen und initiieren, dem Verlauf folgen und abschließen, infrage stellen und sich widersetzen sowie beobachten und eine Perspektive einnehmen. In dem Maße, in dem die Menschen diese verschiedenen Rollen erkennen und entsprechend handeln können, beginnen sie, eine Abfolge von Interaktionen zu schaffen, die das Gespräch im Gleichgewicht hält.

In einem System, das sich vom Dialog wegbewegt, bleiben die Menschen im allgemeinen in einer der vier Positionen stecken. So gibt es Menschen, die bewegen wollen, jedoch feststecken: Sie äußern eine Idee, und bevor sie sich durchsetzen oder auf die Idee reagiert wurde, äußern sie eine andere und noch eine andere, so dass es schwierig ist, sich auf etwas zu konzentrieren. Am aufschlussreichsten für nicht-dialogische Interaktionen sind jedoch die ritualisierten und sich wiederholenden Interaktionen, bei denen Menschen systematisch eine oder mehrere Positionen ausschließen.

Im Fusionsprozess von Monsanto beispielsweise gerieten die beiden Vorstandsvorsitzenden in eine Dynamik, in der der eine eine Maßnahme einleitete, die der andere ablehnte und neutralisierte, was den anderen dazu veranlasste, noch härter zurückzuschlagen. Der Konflikt eskalierte schließlich so weit, dass er das Geschäft sabotierte.

Ein solcher intensiver Zyklus zwischen zwei leistungsstarken Akteuren hindert die anderen oft daran, ihre Rolle als “Beobachter” und “Folgenden” zu erfüllen. Die Beobachter, die den ineffektiven Austausch sehen können, werden oft “behindert” und glauben, dass niemand will, dass sie erkennen, was geschieht. So geht das Wissen, das sie mitbringen, verloren. Gleichzeitig neigen Menschen, die sonst geneigt wären, der einen oder anderen Seite zu folgen, um das Gesagte zu vervollständigen, dazu, am Rande zu bleiben, aus Angst, ins Kreuzfeuer zu geraten. Das Ergebnis ist, dass die Interaktion unausgewogen bleibt.

Die Qualität und Art der spezifischen Rollen kann oft zu Schwierigkeiten führen. Zum Beispiel werden jene, die infrage stellen, im allgemeinen als Störenfriede gebrandmarkt, weil sie die vorherrschende Weisheit hinterfragen, obwohl andere lieber eine Einigung hätten. Aus diesem Grund werden sie von anderen oft ausgegrenzt. Die Tatsache, dass der Wert der Perspektive des Gegners nicht anerkannt wird, führt dazu, dass er seine Stimme erhebt und manchmal den kritischen Ton seiner Kommentare verstärkt. In solchen Fällen hört man die Kritik, aber nicht die eigentliche Absicht, die fast immer darin besteht, die Situation zu klären, zu korrigieren oder für Ausgewogenheit und Integrität zu sorgen.

Eine dialogische Führungskraft wird oft nach Möglichkeiten suchen, das Gleichgewicht in den Interaktionen zwischen den Menschen wiederherzustellen. Sie könnte zum Beispiel die Gegenseite stärken, wenn sie schwach ist, oder die Umstehenden stärken, wenn sie über Informationen verfügt, diese aber zurückgehalten hat. Wenn man jemandem, der etwas in Frage stellen will, wirklich Raum gibt, wird sein Tonfall milder und andere können ihm eher zuhören, wenn er etwas zu sagen hat. Denjenigen, die über heikle, aber lebenswichtige Informationen verfügen, zu unterstützen und ihnen beizustehen, kann sie dazu befähigen, diese preiszugeben: Achten Sie auf die fehlenden Handlungen und bringen Sie sie selbst ein oder ermutigen Sie andere, dies zu tun.

Abwägung zwischen Befürwortung und Erkundung

Eine zentrale Dimension eines Dialogs ist das Entstehen eines bestimmten Gleichgewichts zwischen den Positionen, die Menschen vertreten, und ihrer Bereitschaft, ihre eigenen und die Ansichten anderer zu hinterfragen. Die Professoren Chris Argyris und Don Schön schlugen erstmals die Begriffe «Advocacy” (i.S.v. Befürwortung / Eintreten für etwas) und “Inquiry” (i.S.v. Erkundung / Nachfragen) vor, um lernfördernde Gespräche zu fördern (eine ausführlichere Erklärung finden Sie in ihrem Buch Organizational Learning, Addison-Wesley, 1978). In der überwiegenden Mehrheit der Situationen überwiegt die Befürwortung: Die Menschen sind darauf trainiert, ihre Ansichten so schnell wie möglich zu äußern, wie es manchmal heißt: “Die Menschen hören nicht zu, sie laden nach”, sie schreiben Bedeutung zu und unterstellen Motive, oft ohne nachzuforschen, was andere wirklich gemeint oder beabsichtigt haben. Dies war in den oben beschriebenen Fusionssituationen offensichtlich der Fall. Streitlustiges Eintreten verhindert Nachfragen und Lernen.

Das Vier-Rollen-Modell verdeutlicht die Beziehung zwischen Befürwortung und Erkundung (siehe Abbildung “Balancieren von Befürwortung und Erkundung”): Um gut zu befürworten, muss man sich bewegen und gut infrage stellen; um zu erkunden, muss man beobachten und folgen können. Auch hier gilt, dass das Fehlen eines der Elemente die Interaktion behindert. Jemand, der zwar infrage stellt, aber nicht sagt, was er will (d. h. sich bewegt), ist als Fürsprecher wahrscheinlich weniger effektiv. Ähnlich verhält es sich mit jemandem, der dem folgt, was andere sagen (“erzähl mir mehr”), aber nie eine Perspektive einbringt.

Diese Abbildung zeigt eine weitere Möglichkeit, das Geschehen in einem Gespräch zu verfolgen und für Ausgewogenheit zu sorgen. Um zu befürworten, muss man bewegen und gut infrage stellen; um zu erkunden, muss man gut beobachten und folgen.

Die Abbildung “Balancieren von Fürsprache und Nachfragen” zeigt eine weitere Möglichkeit, das Geschehen in einem Gespräch zu verfolgen und für Ausgewogenheit zu sorgen.

Vier Praktiken für dialogische Führung

Ausgewogenes Handeln in dem hier genannten Sinne ist eine wesentliche und notwendige Vorbedingung für den Dialog. Aber es ist nicht ausreichend. Der Dialog ist eine qualitativ andere Art des Austauschs. Dialogische Führungskräfte haben ein Gespür für diesen Qualitätsunterschied und sind ständig bestrebt, ihn bei sich selbst und anderen zu erzeugen. Ich habe festgestellt, dass es vier verschiedene Praktiken gibt, die die Qualität von Gesprächen verbessern können, und diese vier entsprechen den vier oben genannten Positionen.

Sie können sich beispielsweise auf unterschiedliche Weise bewegen: indem Sie Ihre wahre Stimme zum Ausdruck bringen und andere dazu ermutigen, dasselbe zu tun, oder indem Sie anderen Ihre Ansichten aufzwingen; Sie können mit der Überzeugung infrage stellen, dass Sie es besser wissen als alle anderen, oder aus einer Haltung des Respektierens heraus, in der Sie anerkennen, dass Ihre Kolleg:innen Weisheit besitzen, die Sie vielleicht nicht sehen. In ähnlicher Weise können Sie zuhören, indem Sie selektiv zuhören und Ihre Interpretation der Ausführungen der Sprecherin aufzwingen. Oder Sie können als mitfühlende Teilnehmerin zuhören und Ihr Verständnis des Gesagten auf direkt beobachtbare Erfahrungen gründen. Und schließlich können Sie beobachten, indem Sie den Standpunkt vertreten, dass nur Sie die Dinge so sehen können, wie sie sind, oder Sie können innehalten, Ihre Gewissheiten suspendieren und akzeptieren, dass andere vielleicht Dinge sehen, die Sie übersehen. Um bewusste Entscheidungen über unser Verhalten treffen zu können, müssen wir uns unserer eigenen Absichten und der Auswirkungen unseres Handelns auf andere bewusst werden.

Dies beinhaltet vier Praktiken: die eigene Stimme erheben und andere dazu ermutigen, dasselbe zu tun; als Teilnehmerin zuhören; die Kohärenz der Ansichten anderer respektieren; und innehalten, die eigenen Gewissheiten zurückstellen. Jede von ihnen erfordert eine bewusste Kultivierung und Entwicklung (siehe Abbildung “Vier Praktiken für dialogische Führung»).

Zuhören. Kürzlich sagte ein Manager in einem von mir geleiteten Programm: “Wissen Sie, ich habe mich immer darauf vorbereitet zu sprechen, aber ich habe mich nie darauf vorbereitet zuzuhören. Das liegt daran, dass wir das Zuhören für selbstverständlich halten, obwohl es eigentlich sehr schwer ist. Um gut folgen zu können, müssen wir die Fähigkeit des Zuhörens kultivieren – und nicht einfach dem, was andere Menschen sagen, eine Bedeutung beimessen. Um tief folgen zu können, müssen wir uns so weit auf jemanden einlassen, dass wir verstehen, wie er oder sie versteht. Wenn wir nicht zuhören, haben wir nur unsere eigene Interpretation.

Genauso wichtig ist die Fähigkeit, gemeinsam zuzuhören. Gemeinsam zuzuhören bedeutet, zu lernen, Teil eines größeren Ganzen zu sein – die Stimme und die Bedeutung, die nicht nur von mir, sondern von uns allen ausgeht. Dialoge haben oft die Qualität eines gemeinsamen Auftauchens, bei dem die Menschen beim gemeinsamen Sprechen erkennen, dass sie über dieselben Dinge nachgedacht haben. Sie sind erstaunt, wenn sie ihre eigenen Gedanken aus den Mündern der anderen heraushören. Oftmals müssen keine Entscheidungen getroffen werden, sondern der richtige nächste Schritt ist für alle offensichtlich… Diese Art von Flow ist zwar selten, wird aber möglich, wenn wir uns von unseren eigenen Gedanken lösen und auf die Gedanken der anderen hören. In dieser Situation beginnen wir nicht nur einander zu folgen, sondern auch dem entstehenden Fluss der Bedeutung selbst.

Respektieren. Respektieren ist die Praxis, die die Qualität unseres Gegenübers verändert. Respektieren bedeutet, die Menschen, wie Humberto Maturana es ausdrückt, als “legitime Andere” zu sehen. Eine Atmosphäre des Respektierens ermutigt die Menschen, nach dem Sinn in dem zu suchen, was andere sagen und denken. Respektieren bedeutet, auf die Kohärenz ihrer Ansichten zu achten, selbst wenn wir das, was sie sagen, für inakzeptabel halten.

Peter Garrett, ein Kollege von mir, führt seit vier Jahren Dialoge in Hochsicherheitsgefängnissen in England durch. Er hat wöchentlich mit den schwersten Gewalttätern des Landes zu tun, und gemeinsam haben sie einige bemerkenswerte Ergebnisse erzielt. So kommen zum Beispiel Gefangene, die sonst an keiner Sitzung teilnehmen, zum Dialog. Straftäter, die anfangs unverständlich sprechen und tiefe emotionale Wunden haben, lernen allmählich, ihre Stimme zu erheben und zuzuhören. Peter verfügt über eine ungewöhnliche Fähigkeit des Respektierens, die die Aufrichtigkeit in anderen bestätigt und stärkt. Diese Haltung ermöglicht es ihm, das, was sie sagen, in Frage zu stellen und zu widersprechen, ohne Reaktionen hervorzurufen. Ich bat ihn, mir die wichtigste Lektion mitzuteilen, die er in seiner Arbeit gelernt hat. Er sagte: «Erkundendes Nachfragen und Gewalt können nicht nebeneinander bestehen».

Vier Praktiken können die Qualität von Gesprächen verbessern: sich äußern und andere dazu ermutigen, dasselbe zu tun; als Teilnehmer:in zuhören; die Kohärenz der Ansichten anderer respektieren; und innehalten, die eigenen Gewissheiten zurückstellen.

Innehalten. Wenn wir jemandem beim Reden zuhören, stehen wir vor einer wichtigen Entscheidung. Wir können versuchen, die andere Person dazu zu bringen, die “richtige” Sichtweise der Dinge zu verstehen und zu akzeptieren. Wir können nach Beweisen suchen, um unsere Ansicht zu untermauern, dass sie sich irrt, und Beweise außer Acht lassen, die auf Fehler in unserer eigenen Logik hindeuten könnten.

Andererseits können wir lernen innezuhalten, unsere Meinung und die Gewissheit, die dahinter steckt zu suspendieren. Suspendieren oder Innehalten bedeutet, dass wir weder unterdrücken, was wir denken, noch es mit einseitiger Überzeugung verteidigen. Wir nehmen unsere Gedanken und Gefühle einfach zur Kenntnis und beobachten sie, wenn sie auftauchen, ohne uns gezwungen zu fühlen, danach zu handeln. Diese Praxis kann eine enorme Menge an schöpferischer Energie freisetzen. Innehalten bedeutet, bewusst zu verharren, was es uns ermöglicht, das Geschehen objektiver zu sehen.

In einem unserer Gespräche mit Stahlarbeitern und Managern sagte beispielsweise ein Gewerkschaftsführer: “Wir müssen das Wort Gewerkschaft suspendieren. Wenn Sie es hören, sagen Sie ‘Igitt’. Wenn wir es hören, sagen wir ‘Ah’. Warum ist das so?” Diese Aussage löste ein ungeahntes Maß an Reflexion zwischen Managern und Gewerkschaftern aus. Unsere Untersuchungen legen nahe, dass das Innehalten eine von mehreren Praktiken ist, die für einen echten Dialog unerlässlich sind.

Äußern. Schließlich ist das Äußern der eigenen Stimme vielleicht einer der schwierigsten Aspekte dialogischer Führung. “Mutige Rede”, sagt der Dichter David Whyte in seinem Buch The Heart Aroused, “hat uns immer in Ehrfurcht versetzt”. Er meint, dass dies so ist, weil es unser Innenleben so offenbart. Das Äußern der eigenen Stimme hat damit zu tun, dass wir offenbaren, was für jeden von uns wahr ist, unabhängig von allen anderen Einflüssen, die auf uns einwirken könnten.
Im Dezember 1997 saß eine Gruppe hochrangiger russischer und tschetschenischer Beamter mit ihren Gästen an einem überfüllten Tisch im Präsidentenpalast in Tatarstan, Russland, mitten beim Abendessen. Zuvor war die Lage angespannt gewesen. Tschetschenien hatte kürzlich seine Unabhängigkeit durch einen Guerillakrieg und Angriffe auf die Russen behauptet. Sie hatten die Welt schockiert, indem sie das russische Militär zwangen, sich zurückzuziehen und ihren Forderungen nach Anerkennung als unabhängiger Staat nachzukommen. Die Tschetschenen misstrauten den Akademikern und westlichen Politikern, die alle in diesem Raum versammelt waren, zutiefst; die Tschetschenen befürchteten, dass sie russische Handlanger waren, die die Unabhängigkeit Tschetscheniens verhindern wollten. Die Russen fürchteten ihrerseits, einer ihrer Meinung nach äußerst beunruhigenden Situation weitere Legitimität zu verleihen.

Beim ersten Trinkspruch des Abends stand der Verhandlungsführer/Moderator der Sitzung auf und sagte: “Bis vor ein paar Tagen war ich bei meiner Mutter in New Mexico in den USA. Sie liegt an Krebs im Sterben. Ich habe lange überlegt, ob ich überhaupt hierher kommen soll, um an dieser Versammlung teilzunehmen. Aber als ich ihr sagte, dass ich kommen würde, um an diesem wichtigen Ort der Erde einen Dialog zwischen Ihnen allen zu ermöglichen, befahl sie mir zu kommen. Es gab keine Debatte. Also bin ich hier. Ich erhebe mein Glas auf die Mütter.” Es folgte ein langer Moment der Stille im Saal.

Es sind mutige Momente wie diese, in denen die eigene Stimme wirklich gehört wird. Äußerungen von solch tiefgreifender Direktheit können uns aus uns selbst herausheben. Sie zeigen uns einen breiteren Horizont und rücken die Dinge ins rechte Licht. Solche Momente erinnern uns auch an unsere Widerstandsfähigkeit und laden uns ein, stärker nach einem Weg durch die Schwierigkeiten zu suchen, mit denen wir konfrontiert sind: Wenn wir uns “bewegen”, indem wir unsere authentische Stimme sprechen, setzen wir eine neue Ordnung der Dinge in Gang, eröffnen neue Möglichkeiten und schaffen.

Die Qualität des Handelns verändern

Dialogische Führungskräfte kultivieren diese vier Dimensionen – Zuhören, Respektieren, Innehalten, und Äußern – in sich selbst und in den Gesprächen, die sie mit anderen führen. Dadurch verändert sich die Qualität der Interaktion spürbar und damit auch die Ergebnisse, die Menschen erzielen. Wenn wir das nicht tun, verengt sich unser Blick und wir sind blind für Alternativen, die allen dienen könnten.
In der Geschichte über die Monsanto-Fusion beispielsweise schienen die CEOs die Kohärenz der Ansichten des jeweils anderen nicht zu respektieren. Jeder fand den anderen mehr und mehr inakzeptabel. Das Paradoxe daran ist, dass das Suspendieren der eigenen Ansichten und das Zulassen der Möglichkeit, dass die Sichtweise des anderen eine gewisse Berechtigung haben könnte, eine Tür öffnen könnte, die sonst verschlossen wäre. Indem sie sich auf ein starres Handlungsschema festlegten, schlossen diese Führungskräfte einen qualitativ anderen Ansatz aus – einen Ansatz, den sie hätten wählen können, wenn sie die vier oben beschriebenen dialogischen Praktiken angewandt hätten.

Dialogische Führung lenkt die Aufmerksamkeit auf zwei Ebenen gleichzeitig: auf die Art der Handlungen, die Menschen während einer Interaktion ausführen, und auf die Qualität dieser Interaktionen. Kantors Modell ist ein wirksames Hilfsmittel, um die fehlende Ausgewogenheit der Handlungen in jedem Gespräch zu diagnostizieren. Indem Sie bemerken, welche Perspektive fehlt, können Sie darüber nachdenken, warum dies so ist, und schnell wertvolle Informationen über die Situation als Ganzes gewinnen.

Dialogische Führung kann überall und auf jeder Ebene einer Organisation passieren: Wenn Menschen die oben beschriebenen Prinzipien anwenden, lernen sie, gemeinsam zu denken, und erhöhen so die Wahrscheinlichkeit, dass sie die weitreichenden Beziehungen aufbauen, die für den Erfolg im neuen Miteinander erforderlich sind.

Fachkräftemangel mit Vertrauen begegnen

Viele AbsoventInnen suchen nahezu verzweifelt nach Unternehmen, in denen sie ihre Kreativität und Leidenschaft initiativ einbringen können. Sie wünschen sich Arbeit, in der sie wahren Sinn erkennen. Traditionelle Organigramme und Unternehmenspolitik schrecken sie ab. Talentierte UniabgängerInnen suchen nach ArbeitgeberInnen, welche neben fachlichen Fähigkeiten auch individuelles Wachstum fördern. Unternehmen, welche diesen Trend erkennen und sich sowohl von althergebrachten Strukturen verabschieden als auch die persönliche Entwicklung ihrer Mitarbeitenden fördern, brauchen sich um Fachkräftemangel nicht zu sorgen.

Letzte Woche hatte ich die Ehre und das grosse Vergnügen, die «Ignite Bewegung» an der Universität St. Gallen kennen zu lernen. Im Rahmen der zweitägigen «Ignite Konferenz» führte ich gemeinsam mit meiner Kollegin Maggie Lu einen fünfstündigen Workshop unter dem Titel «Unveil Yourself – Ways to Personal Growth and Transformation» mit rund 100 Teilnehmenden durch.

An der mit viel Liebe und Engagement durch StudentInnen organisierten Veranstaltung begegneten mir eine Reihe hoch talentierter und inspirierender junger Menschen. Viele von ihnen stehen an einem Punkt der Selbstreflexion und Sinnsuche, von dem meine Generation im selben Alter nur träumen konnte. Woran liegt das?

Gesellschaftlicher Wandel fördert individuelle Transformation

Meine Hypothese: Mit dem raschen gesellschaftlichen Wandel der letzten Jahre haben sich auch die Individuen weiter entwickelt. Während die früheren Generationen in erster Linie arbeiteten, um Geld zu verdienen, ihre Grundbedürfnisse zu sichern, ihre Familie zu ernähren und sich allenfalls ein Haus zu kaufen, ist die neue Generation auf der Maslow-Bedürfnispyramide einige Stufen nach oben geklettert. Generation Y geht es vermehrt darum, ihre Wachstumsbedürfnisse zu erfüllen. Sie fragt nach dem Sinn ihrer Arbeit, weniger nach den zu erklimmenden Stufen der Unternehmenshierarchie. Zudem haben die digital Natives in der vernetzten Informationsgesellschaft früher gelernt, mit Widersprüchen und Paradoxien umzugehen. Eine Eigenschaft, die Menschen mit fortgeschrittenem Grad der individuellen Handlungslogik (Ich-Entwicklung) auszeichnet.

Damit meine ich nicht, dass alle Menschen der jungen Generation diesbezüglich gleich sind. Fest steht jedoch, dass die folgende Generation der Fach- und Führungskräfte zunehmend nach persönlicher Entwicklung strebt. Die letzten Gallup-Studien zeigen, dass sich Mitarbeitende immer mehr wünschen:

  1. den Sinn ihrer Arbeit zu erkennen;
  2. ihre Fähigkeiten und ihr Talent voll auszunutzen, um das Beste von sich zu geben, ohne von einem engen Handlungsrahmen begrenzt zu werden;
  3. kontinuierlich lernen zu können;
  4. neue Aufgaben zu bekommen und sich weiterentwickeln zu können und
  5. für eine Firma zu arbeiten, die ihre Kultur und ihre Werte teilt.

Gleichzeitig fordern Unternehmenschefs, die unter Fachkräftemangel leiden, vermehrt leidenschaftliche und kreative Mitarbeitende, die Initiative ergreifen. Kreativität, Leidenschaft und Initiative erfordern Freiheit und Vertrauen statt enge Handlungsrahmen. Nicht ohne Grund gibt es bei Google 20% Kreativzeit für Mitarbeitende. In dieser Zeit können sie tun und lassen, was ihnen gefällt. Laut Great Place to Work® liegt Google auf Platz 1 der beliebtesten Arbeitgeber in der Schweiz.

Unternehmerischer Wandel erfordert individuelles Wachstum

In meiner Beratungspraxis begegnen mir immer wieder Menschen, die ihren erlernten Fähigkeiten mit grosser Begeisterung und mit Engagement nachgehen möchten, durch ein enges Korsett aus Vorgesetzten und Unternehmensstrukturen jedoch demotiviert sind. Lange Dienstwege verzögern oder verhindern Entscheidungen und frustrieren Mitarbeitende in den unteren Boxen der Organigramme. Die Zeiten, als jene Fachkräfte auf der untersten Hierarchiestufe «keine Ahnung vom Geschäft» hatten und nicht entscheiden konnten, sind längst vorbei. Bei motivierten Mitarbeitenden – auch in den untersten Hierarchiestufen gibt es sie – beobachte ich entsprechend eine starke Korrelation ihrer Motivation mit dem Mass an Vertrauen, das ihnen ihre Vorgesetzten entgegen bringen sowie mit der Freiheit, die sie am Arbeitsplatz geniessen.

Manager klagen über Fachkräftemangel. Es gibt bereits eine Reihe von Unternehmen, welche sich auf den Weg gemacht haben, ihre Strukturen an die Bedürfnisse der nächsten Generation anzupassen. Dies ist ein absolut notwendiger Schritt für jene Organisationen, welche im Wettlauf um die Fachkräfte mithalten wollen. Hinreichend und damit nachhaltig wird der Wandel dann, wenn diese Unternehmen auch ihr Menschenbild verändern.

Für eine erfolgreiche Änderung der Strukturen hin zu mehr Freiheit und Vertrauen braucht es gleichzeitig das individuelle Wachstum von Mitarbeitenden und Führungskräften. Vertrauen satt Misstrauen sowie der konstruktive Umgang mit Widersprüchen und Konflikten fällt der neuen Generation leichter. Doch noch sind längst nicht alle dazu in der Lage. Zudem braucht es auch eine erweiterte Handlungslogik der erfahrenen Fach- und Führungskräfte, damit sie nicht nur fachlich sondern auch zwischenmenschlich auf Augenhöhe mit dem Nachwuchs sind.

Sebastian Schmidt, deutscher Hoteldirektor und Sprecher an der «Ignite Konferenz» sagt: «Ich brauche meinen Chef, um mich energetisch aufzuladen.» Für Organisationen, die es schaffen, dass ihre Mitarbeitenden nach einem Gespräch mit ihrem Vorgesetzten mehr Energie haben als davor, ist der Fachkräftemangel ein Schrecken mit Ende.