Über mehrere Jahrzehnte haben Organisationen erfolgreich in Expansion, Effizienzsteigerung, Technologie und Know-How investiert, um Wachstum und Wohlstand zu sichern. Seit einiger Zeit rücken die Grenzen dieses Wachstums näher. Die globalen Märkte sind enger geworden, Effizienz und Wissen allein reichen nicht mehr, um die gegenwärtigen Herausforderungen zu meistern. Unvorhersehbare Wechselwirkungen nehmen uns zuvor gefühlte Sicherheit und Orientierung. Es scheint an der Zeit, dass wir ganz neue Denk- und Handlungsmuster entwickeln, um für die sich entfaltende, ungewisse Zukunft fit zu sein. Wer die nötigen Kapazitäten zur Selbststeuerung entwickelt hat, wird die Wellen der unkontrollierbaren Dynamiken unserer Zeit souveräner zu reiten imstande sein.
Um uns herum verändert sich die Welt in rasanter, zuvor unbekannter Geschwindigkeit. Die Rede ist von einer Welt, in der Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität zunehmen, die sogenannte VUKA-Welt. Heutzutage gibt es so viele Dinge, mit denen wir uns täglich beschäftigen, die unvorhersehbar sind, und es gibt keine Möglichkeit zu wissen, wie diese interagieren werden. Es sind die Wechselwirkungen all dieser unvorhersehbaren Elemente, die Komplexität erzeugen. Je mehr wir miteinander verbunden sind und je schneller sich die Dinge ändern, desto komplexer ist unsere Welt.
Die Corona-Pandemie, die digitale Transformation und der Klimawandel zeigen uns, dass alte Führungsinstrumente, die uns halfen zu kontrollieren, vorherzusagen und zu planen, immer öfter scheitern. Die Denk- und Handlungsmuster der Vergangenheit eignen sich nicht mehr, um die Lösungen für die Herausforderungen der Zukunft zu erzeugen. Häufig wird an dieser Stelle Albert Einstein zitiert: «Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.» Wohlgemerkt sagte er «Denkweise», er sagte nicht «Technologie», «Theorie» oder «Meinung». Vielfach hören wir heute auch, es brauche einen Bewusstseins- oder Haltungswandel (Stichwort Mindest). Was aber ist damit gemeint?
Der Übergang zu einer neuen Denkweise oder einem neuen Bewusstsein ist nicht nur kognitiv über mehr Wissen und Verstehen erlernbar. Er erfordert die Transformation des Denkens und Verstehens an sich. Solche Übergänge waren etwa die Transition vom geozentrischen zum heliozentrischen Weltbild oder vom Gedankenmodell der klassischen Mechanik zu dem der Quantenmechanik. Ein Pendant auf gesellschaftlicher Ebene dürfte der Übergang von der Aristokratie zur Demokratie (gewesen) sein, welcher noch heute in Teilen der Welt andauert. Aus unserer «westlichen» Perspektive rückblickend scheinen diese Transitionen klar, kaum überraschend zu sein. Von der Vergangenheit aus betrachtet sind es schwer vorstellbare Wandlungen, die zum Zeitpunkt ihres Entstehens komplett neue Denk- und Handlungslogiken erforderten und daher auch Jahrzehnte bis Jahrhunderte andauerten.
Erfolgreiche Denk- und Handlungsmuster der Vergangenheit
In der Zeit der Globalisierung brachte die Expansion der Märkte zunächst ein enormes Wirtschaftswachstums mit sich. Zudem brachten Produktivitätssteigerungen den für das wachstumsbasierte Wirtschaftsmodell erforderlichen Zuwachs. Die erfolgsbringende Denkweise der vergangenen Jahrzehnte war es, auf abflachende Kurven von Wachstumssteigerung mit Effizienzgewinnen, verbesserten Organisationsstrukturen und -prozessen, technischem Fortschritt sowie Mehreinsatz von Arbeit und Kapital zu reagieren – bis an die Grenzen des Machbaren. Ein wichtiges Erfolgsrezept dafür waren äussere Anreize wie Kontrolle und leistungsabhängige Beurteilungen der Mitarbeitenden sowie damit verbundene Bonuszahlungen. Die globale Expansion sowie die Steigerung und Kontrolle individueller Leistung waren ein erfolgsbringender Beitrag zur Wohlstandsmaximierung.
Heute sind die globalen Märkte nahezu abgedeckt. Wie zu Zeiten der Manufakturen im 18. und 19. Jahrhundert sind es im 21. Jahrhundert wieder vermehrt Kreativität, Innovation und Qualität, welche wirtschaftlichen Erfolg in engen, gesättigten Märkten sichern – und weniger das expansive, auf Produktivitätssteigerung basierende Wachstum.
Hinzu kommt, dass immer mehr Menschen eine sehr gute und spezialisierte Ausbildung mitbringen. Diese Menschen lassen sich immer weniger von ihren Vorgesetzten mit oft überholtem Wissen sagen, was sie wie und in welcher Geschwindigkeit zu tun und zu lassen haben. Für viele Menschen der jüngeren Generationen sind Boni und «Fringe Benefits» weniger reizvoll als intrinsische Motivation, sinnvolle Arbeit und «Quality Time». Sie entziehen sich dem alten Prinzip des «Command & Control», wo sie können (unus MunDus 2017). Gesuchte Fachkräfte schöpfen ihre Motivation aus der eigenen Kreativität. Wer diese Menschen nicht an Entscheidungsprozessen teilhaben lässt, hat schnell demotivierte Mitarbeitende, die nur einen Teil ihres vollen Potenzials zur Arbeit mitbringen oder gleich kündigen.
Der Weg zu mehr Partizipation und Selbstorganisation
Das Paradigma von Leistungs-Kontrolle hat also in weiten Teilen ausgedient. Dennoch fällt es vielen Führungskräften schwer, ihren Mitarbeitenden mehr Verantwortung zu übertragen und auf deren Selbstverantwortung zu vertrauen. Dies zeigt sich aktuell daran, dass sich Unternehmen sogar während der Corona-Pandemie noch schwer tun mit der Einführung des Home Office. Führungskräfte fragen uns «Wie soll ich Verantwortung und Kontrolle an meine Mitarbeitenden abgeben, wenn ich doch in der Verantwortung bin?» Für viele ist dies ein Dilemma, vor dessen Auflösung sie kapitulieren – verständlicherweise, denn den meisten Führungskräften fehlte bisher ein Arbeitsumfeld, in dem sie die neue Denkweise für dieses Vertrauen hätten entwickeln können.
Zugleich streben immer mehr Unternehmen mehr Partizipation und Selbstorganisation an. Beratungsunternehmen spezialisieren sich darauf Organisationen beizubringen, wie Selbstorganisation gelingen kann. Es gibt kaum noch Berater:innen, die nicht Seminare zu Scrum, Kanban, Soziokratie, Holokratie oder ähnlichen Prozess-Rahmenwerken und Organisationsformen besucht haben. In vielen Organisationen haben Teams begonnen, mit diesen und anderen agilen Rahmenwerken der Selbstorganisation zu arbeiten und schreiben sich gern auf die Fahnen «agil» zu sein. Bei genauerer Betrachtung sind dies zumeist kleinere Inseln in Organisationen, auf denen nach wie vor die klassische Managementhierarchie und -logik wirksam sind. Was macht es so schwer loszulassen, Partizipation zu fördern und in die Selbstorganisation der Mitarbeitenden zu vertrauen?
Die Entwicklung neuer Denk- und Handlungsmuster braucht Übung und Zeit
Zunächst einmal ist da der Faktor Erfahrung: Selbstorganisation braucht Übung, Spielraum zum Experimentieren und die Bereitschaft zum Scheitern. Sowohl Mitarbeitende als auch deren Führungskräfte, die bisher auf Anweisungen von oben gewartet haben, können nicht von einem Jahr zum nächsten selbstorganisiert arbeiten. Langjährige Unternehmenskulturen, in denen bisher bei Fehlern nach Schuldigen gesucht wurde, Konflikte nach oben eskaliert oder vermieden wurden und der Chef das letze Wort hatte, lassen sich nicht in wenigen Monaten umstülpen.
Es braucht neue Strukturen und Prozesse, auf die es sich zu verständigen gilt und die gemeinsam eingeübt werden müssen. Da es einfacher ist, sich in neue Denkmuster hineinzuhandeln als sich in neue Handlungsmuster hineinzudenken, ist das Einstudieren neuer Abläufe ein geeigneter Startpunkt. Wer erfolgreich und nachhaltig die Transition in die Selbstorganisation meistern möchte, für den/die fängt nach Einführung neuer Prozessrahmenwerke und Organisationsformen die eigentliche Arbeit jedoch erst an. Frei nach Grady Booch ist ein Narr mit einem Werkzeug noch immer ein Narr (“A fool with a tool is still a fool.”). Neben den Werkzeugen, mit welchen die Mitarbeitenden neue Handlungsmuster einüben, braucht es auch die aktive Förderung neuer Denkmuster.
Selbstorganisation von Gruppen setzt die Fähigkeit zur Selbststeuerung der Einzelnen voraus, insbesondere der Führungskräfte (1). Neue Denkmuster entstehen durch die Förderung der inneren Entwicklung der Einzelnen. Hier fehlt in vielen Organisationen, die agiles, selbstorganisiertes Arbeiten anstreben, der Blick, die Sensibilität und vor allem der lange Atem. Diese persönlichen Kapazitäten, die es Menschen ermöglichen die VUKA-Welt zu navigieren, lassen sich nicht nur in einem Workshop oder über die Lektüre von Büchern erlernen. Die gute Nachricht: VUKA-Kapazitäten sind entwickelbar. Die weniger gute Nachricht: Entwicklung braucht neben der Bereitschaft der Person vor allem eines – Zeit für den Prozess.
Innere Reife für ein stabiles Ich
Zum Umgang mit dem hohen Mass an Freiheit, das in der Selbstorganisation liegt, brauchen Menschen eine gereifte Persönlichkeit. Persönliche Reife zeichnet sich aus durch ein hohes Mass an Selbstkompetenz. Es ist die Fähigkeit zur Selbstwahrnehmung und Selbstregulation. Um in der VUKA-Welt agil und leistungsstark agieren zu können, braucht es ein stabiles Ich, das dem Individuum innere Stabilität verleiht in einer Aussenwelt, die alles andere als stabil und vorhersehbar ist.
Das Konzept der inneren Reife, Erwachsenenentwicklung oder vertikaler Entwicklung (2) geht davon aus, dass Menschen bei angemessenen Möglichkeiten ihre Kapazität erhöhen, mit Komplexität umzugehen sowie Weisheit und emotionale Reife entwickeln können. Diese Facetten ermöglichen es ihnen, in einer zunehmend volatilen, unsicheren und mehrdeutigen Welt effektiv zu managen und zu führen – sich selbst und andere.
Die Stabilität des Ichs nimmt mit zunehmender innerer Reife zu. Nur wer sich auf den Weg macht, das Selbst zu verstehen, kann Fortschritte in Bezug auf Entwicklung und Wachstum erzielen – und wissen, welche Stärken zu nutzen sind. Das Mass an persönlicher Reife eines Menschen ist bestimmt durch drei wesentliche Kapazitäten, welche auf jene Kernkompetenzen einzahlen, die es Menschen ermöglichen, die VUKA-Welt zu navigieren: Persönliche Kapazität (Selbstbeobachtung, Selbstregulation), zwischenmenschliche Kapazität (Perspektivenwechsel) und konzeptuelle Kapazität (Komplexitätsverarbeitung und Fluidität des Denkens).
Der Bereich der konzeptuellen Kapazität ist eine Erweiterung des traditionell kognitiven Bereichs und umfasst die «denkende» Seite des Einnehmens von verschiedenen Perspektiven sowie die Fähigkeit, mit konzeptioneller Komplexität und dialektischen oder relativistischen Ansätzen umzugehen. Die zwischenmenschliche Kapazität umfasst die aktive Seite des Perspektivenwechsels und schliesst die Kommunikation mit anderen ein. Der Bereich der persönlichen Kapazität umfasst die Selbstregulierung und Selbstbeobachtung. Die Abbildung veranschaulicht, dass bei der Nutzung und Entwicklung dieser Kapazitäten eine Reihe von Kreisen gegenseitigen Einflusses eine Rolle spielen. Das Konzeptuelle und das Persönliche informieren sich ständig gegenseitig, während das Zwischenmenschliche auf beide einzahlt und von beiden stets beeinflusst wird.
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