Fachkräftemangel mit Vertrauen begegnen

Viele AbsoventInnen suchen nahezu verzweifelt nach Unternehmen, in denen sie ihre Kreativität und Leidenschaft initiativ einbringen können. Sie wünschen sich Arbeit, in der sie wahren Sinn erkennen. Traditionelle Organigramme und Unternehmenspolitik schrecken sie ab. Talentierte UniabgängerInnen suchen nach ArbeitgeberInnen, welche neben fachlichen Fähigkeiten auch individuelles Wachstum fördern. Unternehmen, welche diesen Trend erkennen und sich sowohl von althergebrachten Strukturen verabschieden als auch die persönliche Entwicklung ihrer Mitarbeitenden fördern, brauchen sich um Fachkräftemangel nicht zu sorgen.

Letzte Woche hatte ich die Ehre und das grosse Vergnügen, die «Ignite Bewegung» an der Universität St. Gallen kennen zu lernen. Im Rahmen der zweitägigen «Ignite Konferenz» führte ich gemeinsam mit meiner Kollegin Maggie Lu einen fünfstündigen Workshop unter dem Titel «Unveil Yourself – Ways to Personal Growth and Transformation» mit rund 100 Teilnehmenden durch.

An der mit viel Liebe und Engagement durch StudentInnen organisierten Veranstaltung begegneten mir eine Reihe hoch talentierter und inspirierender junger Menschen. Viele von ihnen stehen an einem Punkt der Selbstreflexion und Sinnsuche, von dem meine Generation im selben Alter nur träumen konnte. Woran liegt das?

Gesellschaftlicher Wandel fördert individuelle Transformation

Meine Hypothese: Mit dem raschen gesellschaftlichen Wandel der letzten Jahre haben sich auch die Individuen weiter entwickelt. Während die früheren Generationen in erster Linie arbeiteten, um Geld zu verdienen, ihre Grundbedürfnisse zu sichern, ihre Familie zu ernähren und sich allenfalls ein Haus zu kaufen, ist die neue Generation auf der Maslow-Bedürfnispyramide einige Stufen nach oben geklettert. Generation Y geht es vermehrt darum, ihre Wachstumsbedürfnisse zu erfüllen. Sie fragt nach dem Sinn ihrer Arbeit, weniger nach den zu erklimmenden Stufen der Unternehmenshierarchie. Zudem haben die digital Natives in der vernetzten Informationsgesellschaft früher gelernt, mit Widersprüchen und Paradoxien umzugehen. Eine Eigenschaft, die Menschen mit fortgeschrittenem Grad der individuellen Handlungslogik (Ich-Entwicklung) auszeichnet.

Damit meine ich nicht, dass alle Menschen der jungen Generation diesbezüglich gleich sind. Fest steht jedoch, dass die folgende Generation der Fach- und Führungskräfte zunehmend nach persönlicher Entwicklung strebt. Die letzten Gallup-Studien zeigen, dass sich Mitarbeitende immer mehr wünschen:

  1. den Sinn ihrer Arbeit zu erkennen;
  2. ihre Fähigkeiten und ihr Talent voll auszunutzen, um das Beste von sich zu geben, ohne von einem engen Handlungsrahmen begrenzt zu werden;
  3. kontinuierlich lernen zu können;
  4. neue Aufgaben zu bekommen und sich weiterentwickeln zu können und
  5. für eine Firma zu arbeiten, die ihre Kultur und ihre Werte teilt.

Gleichzeitig fordern Unternehmenschefs, die unter Fachkräftemangel leiden, vermehrt leidenschaftliche und kreative Mitarbeitende, die Initiative ergreifen. Kreativität, Leidenschaft und Initiative erfordern Freiheit und Vertrauen statt enge Handlungsrahmen. Nicht ohne Grund gibt es bei Google 20% Kreativzeit für Mitarbeitende. In dieser Zeit können sie tun und lassen, was ihnen gefällt. Laut Great Place to Work® liegt Google auf Platz 1 der beliebtesten Arbeitgeber in der Schweiz.

Unternehmerischer Wandel erfordert individuelles Wachstum

In meiner Beratungspraxis begegnen mir immer wieder Menschen, die ihren erlernten Fähigkeiten mit grosser Begeisterung und mit Engagement nachgehen möchten, durch ein enges Korsett aus Vorgesetzten und Unternehmensstrukturen jedoch demotiviert sind. Lange Dienstwege verzögern oder verhindern Entscheidungen und frustrieren Mitarbeitende in den unteren Boxen der Organigramme. Die Zeiten, als jene Fachkräfte auf der untersten Hierarchiestufe «keine Ahnung vom Geschäft» hatten und nicht entscheiden konnten, sind längst vorbei. Bei motivierten Mitarbeitenden – auch in den untersten Hierarchiestufen gibt es sie – beobachte ich entsprechend eine starke Korrelation ihrer Motivation mit dem Mass an Vertrauen, das ihnen ihre Vorgesetzten entgegen bringen sowie mit der Freiheit, die sie am Arbeitsplatz geniessen.

Manager klagen über Fachkräftemangel. Es gibt bereits eine Reihe von Unternehmen, welche sich auf den Weg gemacht haben, ihre Strukturen an die Bedürfnisse der nächsten Generation anzupassen. Dies ist ein absolut notwendiger Schritt für jene Organisationen, welche im Wettlauf um die Fachkräfte mithalten wollen. Hinreichend und damit nachhaltig wird der Wandel dann, wenn diese Unternehmen auch ihr Menschenbild verändern.

Für eine erfolgreiche Änderung der Strukturen hin zu mehr Freiheit und Vertrauen braucht es gleichzeitig das individuelle Wachstum von Mitarbeitenden und Führungskräften. Vertrauen satt Misstrauen sowie der konstruktive Umgang mit Widersprüchen und Konflikten fällt der neuen Generation leichter. Doch noch sind längst nicht alle dazu in der Lage. Zudem braucht es auch eine erweiterte Handlungslogik der erfahrenen Fach- und Führungskräfte, damit sie nicht nur fachlich sondern auch zwischenmenschlich auf Augenhöhe mit dem Nachwuchs sind.

Sebastian Schmidt, deutscher Hoteldirektor und Sprecher an der «Ignite Konferenz» sagt: «Ich brauche meinen Chef, um mich energetisch aufzuladen.» Für Organisationen, die es schaffen, dass ihre Mitarbeitenden nach einem Gespräch mit ihrem Vorgesetzten mehr Energie haben als davor, ist der Fachkräftemangel ein Schrecken mit Ende.

 

Ich-Entwicklung für Führungskräfte: Warum innere Reife entscheidend ist

Digitalisierung, Generation Y, ein globaler Arbeitsmarkt und vieles andere verändern die Unternehmens- und Personalführung. Neue Strategien fordern auch einen neuen Umgang mit Menschen und neue Führungsmodelle. Ein Trend ist die Einführung von Agilität in Unternehmen. Die persönliche Reife (Ich-Entwicklung) von Führungskräften und Mitarbeitenden ist entscheidend für eine erfolgreiche Umstellung auf agile Führung und selbstgesteuerte Teams.

Agilität erfordert Methoden und fordert Menschen

Organisationen und HR-Abteilungen beginnen häufig mit der Einführung von agilen Methoden und Tools, um selbstgesteuerte Teams zu fördern. Zunehmend geschieht dies auch ausserhalb von IT-Abteilungen. Vergessen geht häufig, dass das agile Manifest den menschlichen Faktor vor die Methoden stellt. Dort heisst es «Individuen und Interaktionen haben Vorrang vor Prozessen und Werkzeugen». Im Klartext heisst das «People over Process».

Unternehmen konzentrieren sich heute oft auf die Einführung von agilen Methoden wie Scrum, Kanban, Design Thinking etc. und fokussieren damit auf Fähigkeiten und Kompetenzen, «Process over People». Albert Einstein sagte einmal «Es ist verrückt, die Dinge immer gleich zu machen und dabei auf andere Ergebnisse zu hoffen». Die komplexe Arbeitswelt 4.0 erfordert es, die Dinge anders zu tun und die Entwicklung der beteiligten Menschen zu fördern. Damit ist nicht das klassische Führungskräftetraining gemeint, das sich auf Skills und Kompetenzen wie Führungsstil, Kommunikation, Auftrittskompetenz und dergleichen bezieht. Gemeint ist ein holistischer Ansatz der Persönlichkeitsentwicklung, die das Denken und die Werte der Menschen mit einbezieht. Die Förderung der Fähigkeit zu Selbstreflexion, empathischem Zuhören und offenem Dialog sind hier zentral.

Aus Erfahrung wissen wir, dass die Entwicklung der Selbstführung, Selbstreflexion und Selbst-Bewusstheit in klassischen Trainingsprogrammen an ihre Grenzen stösst, da in vielen Trainingsprogrammen die Entwicklung des Selbst zu wenig vom Erlernen von Fähigkeiten unterschieden wird.

Während beim Erlernen von neuen Fähigkeiten das «WAS» unseres Denkens erweitert wird, also der Inhalt unseres kognitiven Wissens zunimmt, ändert sich bei der Selbst-Entwicklung das «WIE» unseres Denkens. Lernen, auch horizontale Entwicklung genannt, passiert, indem wir uns neue „Tools“ aneignen, weiteres Wissen anhäufen oder uns neue «Skills» aneignen. Hingegen bedeutet vertikale Entwicklung der Persönlichkeit oder auch Ich-Entwicklung, dass sich unsere ganze Sichtweise verändert, sie umfassender, tiefer und flexibler wird. Dadurch können wir auch anders mit Herausforderungen umgehen.

Die Rolle der Ich-Entwicklung

Führung im komplexen Zeitalter der Digitalisierung erfordert persönliche Reife. Diese manifestiert sich in der Ich-Entwicklung. Die Psychologin Jane Loevinger erforschte während mehr als 40 Jahren die Ich-Entwicklung von Menschen und fand dabei in ihren Daten, dass persönliche Entwicklung über verschiedene Stufen abläuft. In Ihrer Arbeit entwickelte Loevinger einen ersten Test zum Messen der persönlichen Reife. Je nach Entwicklungsstufe folgt der Mensch einer anderen inneren Handlungslogik, welche sich auch im Denken und im Umgang mit anderen Menschen manifestiert.

Die Stufen teilen sich in einen vorkonventionellen, konventionellen und postkonventionellen Bereich. Erst im späten Konventionellen und im Postkonventionellen lösen sich Menschen von den Normen ihres sozialen Umfeldes und entwickeln eigene, davon unabhängige Werte. Ihr Denken weitet sich und bezieht mehr und mehr unterschiedliche Aspekte und Perspektiven ein. Mit jeder weiteren Entwicklungsstufe billigt ein Mensch der Aussenwelt mehr Eigenständigkeit zu. Damit erhöhen sich auch die eigenen Freiheitsgrade, was tendenziell zu grösserer Gelassenheit führt.

Wirksamer führen durch postkonventionelles Denken

Menschen auf den postkonventionellen Stufen stellen zunehmend eigene Überzeugungen in Frage und sind ehrlich interessiert an anderen Gedanken, Meinungen und Ideen. Sie bewerten weniger und teilen nicht mehr in richtig und falsch ein. Dies ermöglicht es ihnen, auch ungewöhnliche Perspektiven und mehr Möglichkeiten einzubeziehen.

Weil ihre eigene Meinung fliessender wird und sich mit neuen Informationen verändern kann, können Menschen auf den postkonventionellen Stufen andere Meinungen besser integrieren, ohne in die Verteidigung oder Rechtfertigung der eigenen Ansichten zu gehen. Dadurch sind sie in der Lage, wichtige Beiträge zur Weiterentwicklung von Systemen und Menschen zu leisten. Sie begrüssen Unterschiede und Veränderung statt, wie in den Stufen zuvor, Ähnlichkeiten und Stabilität in den Vordergrund zu stellen. Dies erklärt auch, warum Führungskräfte auf postkonventionellen Stufen gerade auch in Veränderungssituationen wirksamer sind, wie verschiedene Studien belegen.

Wer Agilität im Unternehmen erfolgreich einführen möchte, sollte sich daher nicht auf die Einführung von Tools und Methoden beschränken, sondern parallel dazu die Persönlichkeitentwicklung seiner Mitarbeitenden und Führungskräfte fördern.

Mit dem I-E-Profil™ lässt sich die Ich-Entwicklungsstufe von Menschen bestimmen. In einem gezielten Coaching kann diese persönliche Entwicklung gefördert werden – Voraussetzung dafür ist die eigene Offenheit und der Wille zu persönlicher Entwicklung.

 

Ich-Entwicklung für Führungskräfte: Warum Reife entscheidend ist

Die Digitalisierung verändert die Unternehmens- und Personalführung. Neue Strategien fordern auch einen neuen Umgang mit Menschen. Dazu gehört mehr Teamarbeit und die Förderung von Verantwortungsübernahme. Führungskräfte sind derzeit aber kaum in der Lage, die entstehenden Herausforderungen zu bewältigen. Das liegt auch in der Tatsache begründet, dass ihre Handlungslogik sich eher darauf bezieht, Dinge richtig zu machen oder Ziele zu erreichen als Menschen zu befähigen und einzubinden. Transformation ist aber keine Sache von Zielerreichung. Checklisten-Denken hilft hier schon mal gar nicht. Vielmehr braucht man agilere Führung.

Falscher Fokus von Führungskräfteentwicklung

Schuld sind nicht die Führungskräfte, sondern Unternehmen, die Führungskräfteentwicklung auf Themen wie Führungsstil oder Kommunikation oder sogar Selbstdarstellung bezogen haben, nicht jedoch auf Denken und Werte. Viele Führungskräfte reflektieren kaum und hinterfragen sich deshalb auch nicht. Zuhören über das „Downloaden” von Informationen hinaus, ist ihnen oft ebenso fremd wie ein daraus entstehender offener Dialog ohne Ergebnis, aber dafür mit neuen Gedanken.

Gute Führung im digitalen Zeitalter hat viel mit persönlicher Reife zu tun, mit Ich- Entwicklung. Ihre Theorie der Ich-Entwicklung entwickelte die Psychologin Jane Loevinger in mehr als 40 Jahren Forschung. Sie fand Muster in ihren Daten, die darauf hindeuteten, dass persönliche Entwicklung als Prozess über verschiedene Stufen in immer gleicher Art und Weise abläuft. Meist manifestiert sich Entwicklung auf einer Stufe – und damit auch das Denken.

Postkonventionelles Denken für die Probleme

Jede Stufe hat ihre Berechtigung. Die Stufen teilen sich in einen vorkonventionellen, konventionellen und postkonventionellen Bereich. Erst im späten konventionellen und im postkonventionellen lösen sich Menschen von den Normen ihrer In-Gruppe und entwickeln eigene, davon unabhängige Werte. Man könnte auch sagen, das Denken weitet sich und bezieht mehr und mehr unterschiedliche Aspekte ein.

Postkonventionell denkende Führungskräfte stellen eher eigene Überzeugungen in Frage und sind ehrlich interessiert an anderen Gedanken, Meinungen und Ideen. Sie entwickeln ein systemisch-konstruktivistisches Verständnis. Es gibt für sie kein richtig und kein falsch, weshalb sie sich Möglichkeiten genauer anschauen und auch ungewöhnliche Perspektiven eher einbeziehen. Ihre Meinungen sind zunehmend fließend und verändern sich mit neuer Information, ohne dass das Rechtfertigungsdruck auslöst. Ambiguitäten halten Postkonventionelle gut aus. Dadurch erklärt es sich, warum Studien zeigen, dass Führungskräfte auf postkonventionellen Ebene wirksamer sind, gerade auch in Veränderungssituationen.

Weitere Ebene der Persönlichkeit

Die Ich-Entwicklung fügt Ebenen der Persönlichkeit, wie sie etwa aus den Big Five bekannt sind, eine weitere hinzu. Sie moderiert Eigenschaften und Motive und beeinflusst damit die Form, wie sie sich zeigen. Das Motiv Macht etwa kann als einfaches Dominanzverhalten interpretiert werden oder aber als Bedürfnis, auf etwas Bedeutendes Einfluss zu nehmen. Letzteres spricht für eine spätere Ich-Entwicklung.

Führungskräfte können sich in zwei Richtungen weiter entwickeln. Horizontal lernen sie neue Kompetenzen. Vertikal erweitert sich ihr Denken. Die Zahl wahrgenommener und integrierter Aspekte wird größer. Die Bereitschaft, andere einzubeziehen und nach tragfähigen übergreifenden Lösungen zu suchen, steigt. Der interpersonelle Stil ändert sich, also der Umgang mit anderen. Und mit ihr die Handlungslogik. So fragen sich die einen „tue ich die Dinge richtig?” und die anderen „tue ich die richtigen Dinge?” – für mich, die anderen, das Unternehmen und vielleicht sogar die Gesellschaft.

Dieser Beitrag ist eine Zusammenfassung aus dem Buch „Agiler führen” von Svenja Hofert und wurde veröffentlicht im Blog der Huffington Post am 10. September 2016.