Dialogische Führung

DIALOGISCHE FÜHRUNG

VON WILLIAM N. ISAACS

ursprünglich veröffentlicht im Februar 1999 in
The Systems Thinker, Pegasus Communications
Übersetzt und überarbeitet von Nicole Werner mit Unterstützung von DeepL.com

Als Monsanto und American Home Products ihre geplante Fusion 1998 auflösten, lag das nicht an mangelnden strategischen oder marktbezogenen Synergien oder an der Einmischung der Regulierungsbehörden. Einem Bericht der New York Times zufolge scheiterte das Geschäft “an einem unüberwindbaren Machtkampf zwischen den Vorsitzenden der beiden Unternehmen. . .” (The New York Times, 14. Oktober 1998).

Pannen in der menschlichen Interaktion und Kommunikation spielen eine zentrale Rolle im Organisationsleben. Im Fall von Monsanto und American Home Products hatten die CEOs der beiden Unternehmen sehr unterschiedliche Führungsansätze. Der eine verbrachte seine Mittagspause damit, mit den Mitarbeitern Basketball zu spielen. Der andere weigerte sich, in den neuen Hauptsitz des Unternehmens umzuziehen, und zog es vor, mit den wichtigsten Mitarbeitern per E-Mail in Kontakt zu bleiben. Die beiden Führungskräfte begannen allmählich, die Motive und Schritte des anderen in Frage zu stellen. Als zum Beispiel einer der beiden Vorsitzenden einen Kandidaten für den Posten des Finanzvorstands vorschlug, verbreitete der andere ein Memo, in dem er behauptete, dass dieser Mann die Stelle niemals ausfüllen würde. Jeder hatte das Gefühl, dass der andere ihn und das Unternehmen untergrub. Sie erwiesen sich schließlich als unfähig, zusammenzuarbeiten, und die Fusion scheiterte.

Manchmal zeigen auch scheinbar erfolgreiche Fusionen schnell Anzeichen von Belastung. Acht Monate nach ihrem Zusammenschluss entließ die Citigroup, der neue Zusammenschluss von Travelers Group und Citicorp, James Dimon, den Mann, der als Friedensstifter zwischen den beiden Co-Chefs des Unternehmens fungierte und als dessen Erbe angesehen wurde. Dimon war weithin geachtet; sein Abgang war nicht auf schlechte Leistungen zurückzuführen, sondern, wie ein Manager es ausdrückte, auf “Unternehmenspolitik”.

Später befragte Führungskräfte sagten, dass der zusammengebrochene Deal zwischen Monsanto und American Home Products “nicht im besten Interesse der Aktionäre” gewesen sei und dass Dimons überraschender Abgang “das Beste für das Unternehmen war”, doch diese Art von Gerede verdeckt ehrlichere Berichte über die Geschehnisse. Berichten zufolge gerieten die Führungskräfte in jeder dieser Situationen in unangenehme Konflikte über eine Reihe von Sachfragen: die letztendliche Kontrolle in einem “Co-CEO”-Szenario, die Mitgliedschaft in wichtigen Führungsteams und der Zeitplan für die Integration unterschiedlicher Kulturen und Geschäftsbereiche. Letztendlich gelang es diesen Personen nicht, einen Weg zu finden zu reden und effektiv zusammenzudenken, um diese schwierigen Fragen zu lösen.

Auch wenn wir nicht alle mit angespannten oder gescheiterten milliardenschweren Unternehmensfusionen zu tun haben, sind wir wahrscheinlich mit solchen Kommunikations- und Vertrauensschwierigkeiten und deren dramatischen Auswirkungen auf die Unternehmensleistung vertraut. Wie können wir also ein Umfeld schaffen, in dem diese Schwierigkeiten in Erfolge umgewandelt werden können?

In diesem Artikel wird untersucht, wie “dialogische Führung”, ein Ansatz, der sich aus den Kernprinzipien des “Dialogs” entwickelt hat, zur Schaffung von Umgebungen führen kann, die die Fragmentierung auflösen und die kollektive Weisheit der Menschen zum Vorschein bringen.

Vier Handlungsfähigkeiten für dialogische Führungspersönlichkeiten

Die vier oben erwähnten Qualitäten einer dialogischen Führungskraft spiegeln sich in vier verschiedenen Arten von Handlungen wider, die eine Person in jedem Gespräch ausführen kann. Diese Handlungen wurden von David Kantor, einem bekannten Familiensystemtherapeuten, identifiziert. Kantor geht davon aus, dass manche Menschen bewegen (move) – sie initiieren Ideen und geben die Richtung vor. Andere folgen (follow) – sie vervollständigen das Gesagte, helfen anderen, ihre Gedanken zu klären, und unterstützen das Geschehen. Wieder andere stellen infrage (oppose) – sie stellen das Gesagte in Frage und hinterfragen seine Gültigkeit. Und wieder andere beobachten (bystand) – sie nehmen aktiv wahr, was vor sich geht, und geben einen Einblick in das Geschehen.

In jedem Gespräch gibt es Menschen, die etwas bewegen, d.h. die Ideen einbringen. Andere folgen – sie ergänzen das Gesagte und unterstützen das Geschehen. Wieder andere stellen infrage – sie stellen das Gesagte in Frage. Und wieder andere beobachten – sie bieten eine Perspektive auf das, was geschieht.

Die Beobachtung der Handlungen von Menschen kann einem enorme Informationen über die Qualität ihrer Interaktionen geben und darauf hinweisen, ob sie sich in Richtung eines Dialogs oder einer Diskussion bewegen. In einem dialogischen System kann jede Person zu jeder Zeit eine der vier Aktionen ausführen, auch wenn sie eine bevorzugte Position einnimmt, kann sich jede Person bewegen und initiieren, dem Verlauf folgen und abschließen, infrage stellen und sich widersetzen sowie beobachten und eine Perspektive einnehmen. In dem Maße, in dem die Menschen diese verschiedenen Rollen erkennen und entsprechend handeln können, beginnen sie, eine Abfolge von Interaktionen zu schaffen, die das Gespräch im Gleichgewicht hält.

In einem System, das sich vom Dialog wegbewegt, bleiben die Menschen im allgemeinen in einer der vier Positionen stecken. So gibt es Menschen, die bewegen wollen, jedoch feststecken: Sie äußern eine Idee, und bevor sie sich durchsetzen oder auf die Idee reagiert wurde, äußern sie eine andere und noch eine andere, so dass es schwierig ist, sich auf etwas zu konzentrieren. Am aufschlussreichsten für nicht-dialogische Interaktionen sind jedoch die ritualisierten und sich wiederholenden Interaktionen, bei denen Menschen systematisch eine oder mehrere Positionen ausschließen.

Im Fusionsprozess von Monsanto beispielsweise gerieten die beiden Vorstandsvorsitzenden in eine Dynamik, in der der eine eine Maßnahme einleitete, die der andere ablehnte und neutralisierte, was den anderen dazu veranlasste, noch härter zurückzuschlagen. Der Konflikt eskalierte schließlich so weit, dass er das Geschäft sabotierte.

Ein solcher intensiver Zyklus zwischen zwei leistungsstarken Akteuren hindert die anderen oft daran, ihre Rolle als “Beobachter” und “Folgenden” zu erfüllen. Die Beobachter, die den ineffektiven Austausch sehen können, werden oft “behindert” und glauben, dass niemand will, dass sie erkennen, was geschieht. So geht das Wissen, das sie mitbringen, verloren. Gleichzeitig neigen Menschen, die sonst geneigt wären, der einen oder anderen Seite zu folgen, um das Gesagte zu vervollständigen, dazu, am Rande zu bleiben, aus Angst, ins Kreuzfeuer zu geraten. Das Ergebnis ist, dass die Interaktion unausgewogen bleibt.

Die Qualität und Art der spezifischen Rollen kann oft zu Schwierigkeiten führen. Zum Beispiel werden jene, die infrage stellen, im allgemeinen als Störenfriede gebrandmarkt, weil sie die vorherrschende Weisheit hinterfragen, obwohl andere lieber eine Einigung hätten. Aus diesem Grund werden sie von anderen oft ausgegrenzt. Die Tatsache, dass der Wert der Perspektive des Gegners nicht anerkannt wird, führt dazu, dass er seine Stimme erhebt und manchmal den kritischen Ton seiner Kommentare verstärkt. In solchen Fällen hört man die Kritik, aber nicht die eigentliche Absicht, die fast immer darin besteht, die Situation zu klären, zu korrigieren oder für Ausgewogenheit und Integrität zu sorgen.

Eine dialogische Führungskraft wird oft nach Möglichkeiten suchen, das Gleichgewicht in den Interaktionen zwischen den Menschen wiederherzustellen. Sie könnte zum Beispiel die Gegenseite stärken, wenn sie schwach ist, oder die Umstehenden stärken, wenn sie über Informationen verfügt, diese aber zurückgehalten hat. Wenn man jemandem, der etwas in Frage stellen will, wirklich Raum gibt, wird sein Tonfall milder und andere können ihm eher zuhören, wenn er etwas zu sagen hat. Denjenigen, die über heikle, aber lebenswichtige Informationen verfügen, zu unterstützen und ihnen beizustehen, kann sie dazu befähigen, diese preiszugeben: Achten Sie auf die fehlenden Handlungen und bringen Sie sie selbst ein oder ermutigen Sie andere, dies zu tun.

Abwägung zwischen Befürwortung und Erkundung

Eine zentrale Dimension eines Dialogs ist das Entstehen eines bestimmten Gleichgewichts zwischen den Positionen, die Menschen vertreten, und ihrer Bereitschaft, ihre eigenen und die Ansichten anderer zu hinterfragen. Die Professoren Chris Argyris und Don Schön schlugen erstmals die Begriffe «Advocacy” (i.S.v. Befürwortung / Eintreten für etwas) und “Inquiry” (i.S.v. Erkundung / Nachfragen) vor, um lernfördernde Gespräche zu fördern (eine ausführlichere Erklärung finden Sie in ihrem Buch Organizational Learning, Addison-Wesley, 1978). In der überwiegenden Mehrheit der Situationen überwiegt die Befürwortung: Die Menschen sind darauf trainiert, ihre Ansichten so schnell wie möglich zu äußern, wie es manchmal heißt: “Die Menschen hören nicht zu, sie laden nach”, sie schreiben Bedeutung zu und unterstellen Motive, oft ohne nachzuforschen, was andere wirklich gemeint oder beabsichtigt haben. Dies war in den oben beschriebenen Fusionssituationen offensichtlich der Fall. Streitlustiges Eintreten verhindert Nachfragen und Lernen.

Das Vier-Rollen-Modell verdeutlicht die Beziehung zwischen Befürwortung und Erkundung (siehe Abbildung “Balancieren von Befürwortung und Erkundung”): Um gut zu befürworten, muss man sich bewegen und gut infrage stellen; um zu erkunden, muss man beobachten und folgen können. Auch hier gilt, dass das Fehlen eines der Elemente die Interaktion behindert. Jemand, der zwar infrage stellt, aber nicht sagt, was er will (d. h. sich bewegt), ist als Fürsprecher wahrscheinlich weniger effektiv. Ähnlich verhält es sich mit jemandem, der dem folgt, was andere sagen (“erzähl mir mehr”), aber nie eine Perspektive einbringt.

Diese Abbildung zeigt eine weitere Möglichkeit, das Geschehen in einem Gespräch zu verfolgen und für Ausgewogenheit zu sorgen. Um zu befürworten, muss man bewegen und gut infrage stellen; um zu erkunden, muss man gut beobachten und folgen.

Die Abbildung “Balancieren von Fürsprache und Nachfragen” zeigt eine weitere Möglichkeit, das Geschehen in einem Gespräch zu verfolgen und für Ausgewogenheit zu sorgen.

Vier Praktiken für dialogische Führung

Ausgewogenes Handeln in dem hier genannten Sinne ist eine wesentliche und notwendige Vorbedingung für den Dialog. Aber es ist nicht ausreichend. Der Dialog ist eine qualitativ andere Art des Austauschs. Dialogische Führungskräfte haben ein Gespür für diesen Qualitätsunterschied und sind ständig bestrebt, ihn bei sich selbst und anderen zu erzeugen. Ich habe festgestellt, dass es vier verschiedene Praktiken gibt, die die Qualität von Gesprächen verbessern können, und diese vier entsprechen den vier oben genannten Positionen.

Sie können sich beispielsweise auf unterschiedliche Weise bewegen: indem Sie Ihre wahre Stimme zum Ausdruck bringen und andere dazu ermutigen, dasselbe zu tun, oder indem Sie anderen Ihre Ansichten aufzwingen; Sie können mit der Überzeugung infrage stellen, dass Sie es besser wissen als alle anderen, oder aus einer Haltung des Respektierens heraus, in der Sie anerkennen, dass Ihre Kolleg:innen Weisheit besitzen, die Sie vielleicht nicht sehen. In ähnlicher Weise können Sie zuhören, indem Sie selektiv zuhören und Ihre Interpretation der Ausführungen der Sprecherin aufzwingen. Oder Sie können als mitfühlende Teilnehmerin zuhören und Ihr Verständnis des Gesagten auf direkt beobachtbare Erfahrungen gründen. Und schließlich können Sie beobachten, indem Sie den Standpunkt vertreten, dass nur Sie die Dinge so sehen können, wie sie sind, oder Sie können innehalten, Ihre Gewissheiten suspendieren und akzeptieren, dass andere vielleicht Dinge sehen, die Sie übersehen. Um bewusste Entscheidungen über unser Verhalten treffen zu können, müssen wir uns unserer eigenen Absichten und der Auswirkungen unseres Handelns auf andere bewusst werden.

Dies beinhaltet vier Praktiken: die eigene Stimme erheben und andere dazu ermutigen, dasselbe zu tun; als Teilnehmerin zuhören; die Kohärenz der Ansichten anderer respektieren; und innehalten, die eigenen Gewissheiten zurückstellen. Jede von ihnen erfordert eine bewusste Kultivierung und Entwicklung (siehe Abbildung “Vier Praktiken für dialogische Führung»).

Zuhören. Kürzlich sagte ein Manager in einem von mir geleiteten Programm: “Wissen Sie, ich habe mich immer darauf vorbereitet zu sprechen, aber ich habe mich nie darauf vorbereitet zuzuhören. Das liegt daran, dass wir das Zuhören für selbstverständlich halten, obwohl es eigentlich sehr schwer ist. Um gut folgen zu können, müssen wir die Fähigkeit des Zuhörens kultivieren – und nicht einfach dem, was andere Menschen sagen, eine Bedeutung beimessen. Um tief folgen zu können, müssen wir uns so weit auf jemanden einlassen, dass wir verstehen, wie er oder sie versteht. Wenn wir nicht zuhören, haben wir nur unsere eigene Interpretation.

Genauso wichtig ist die Fähigkeit, gemeinsam zuzuhören. Gemeinsam zuzuhören bedeutet, zu lernen, Teil eines größeren Ganzen zu sein – die Stimme und die Bedeutung, die nicht nur von mir, sondern von uns allen ausgeht. Dialoge haben oft die Qualität eines gemeinsamen Auftauchens, bei dem die Menschen beim gemeinsamen Sprechen erkennen, dass sie über dieselben Dinge nachgedacht haben. Sie sind erstaunt, wenn sie ihre eigenen Gedanken aus den Mündern der anderen heraushören. Oftmals müssen keine Entscheidungen getroffen werden, sondern der richtige nächste Schritt ist für alle offensichtlich… Diese Art von Flow ist zwar selten, wird aber möglich, wenn wir uns von unseren eigenen Gedanken lösen und auf die Gedanken der anderen hören. In dieser Situation beginnen wir nicht nur einander zu folgen, sondern auch dem entstehenden Fluss der Bedeutung selbst.

Respektieren. Respektieren ist die Praxis, die die Qualität unseres Gegenübers verändert. Respektieren bedeutet, die Menschen, wie Humberto Maturana es ausdrückt, als “legitime Andere” zu sehen. Eine Atmosphäre des Respektierens ermutigt die Menschen, nach dem Sinn in dem zu suchen, was andere sagen und denken. Respektieren bedeutet, auf die Kohärenz ihrer Ansichten zu achten, selbst wenn wir das, was sie sagen, für inakzeptabel halten.

Peter Garrett, ein Kollege von mir, führt seit vier Jahren Dialoge in Hochsicherheitsgefängnissen in England durch. Er hat wöchentlich mit den schwersten Gewalttätern des Landes zu tun, und gemeinsam haben sie einige bemerkenswerte Ergebnisse erzielt. So kommen zum Beispiel Gefangene, die sonst an keiner Sitzung teilnehmen, zum Dialog. Straftäter, die anfangs unverständlich sprechen und tiefe emotionale Wunden haben, lernen allmählich, ihre Stimme zu erheben und zuzuhören. Peter verfügt über eine ungewöhnliche Fähigkeit des Respektierens, die die Aufrichtigkeit in anderen bestätigt und stärkt. Diese Haltung ermöglicht es ihm, das, was sie sagen, in Frage zu stellen und zu widersprechen, ohne Reaktionen hervorzurufen. Ich bat ihn, mir die wichtigste Lektion mitzuteilen, die er in seiner Arbeit gelernt hat. Er sagte: «Erkundendes Nachfragen und Gewalt können nicht nebeneinander bestehen».

Vier Praktiken können die Qualität von Gesprächen verbessern: sich äußern und andere dazu ermutigen, dasselbe zu tun; als Teilnehmer:in zuhören; die Kohärenz der Ansichten anderer respektieren; und innehalten, die eigenen Gewissheiten zurückstellen.

Innehalten. Wenn wir jemandem beim Reden zuhören, stehen wir vor einer wichtigen Entscheidung. Wir können versuchen, die andere Person dazu zu bringen, die “richtige” Sichtweise der Dinge zu verstehen und zu akzeptieren. Wir können nach Beweisen suchen, um unsere Ansicht zu untermauern, dass sie sich irrt, und Beweise außer Acht lassen, die auf Fehler in unserer eigenen Logik hindeuten könnten.

Andererseits können wir lernen innezuhalten, unsere Meinung und die Gewissheit, die dahinter steckt zu suspendieren. Suspendieren oder Innehalten bedeutet, dass wir weder unterdrücken, was wir denken, noch es mit einseitiger Überzeugung verteidigen. Wir nehmen unsere Gedanken und Gefühle einfach zur Kenntnis und beobachten sie, wenn sie auftauchen, ohne uns gezwungen zu fühlen, danach zu handeln. Diese Praxis kann eine enorme Menge an schöpferischer Energie freisetzen. Innehalten bedeutet, bewusst zu verharren, was es uns ermöglicht, das Geschehen objektiver zu sehen.

In einem unserer Gespräche mit Stahlarbeitern und Managern sagte beispielsweise ein Gewerkschaftsführer: “Wir müssen das Wort Gewerkschaft suspendieren. Wenn Sie es hören, sagen Sie ‘Igitt’. Wenn wir es hören, sagen wir ‘Ah’. Warum ist das so?” Diese Aussage löste ein ungeahntes Maß an Reflexion zwischen Managern und Gewerkschaftern aus. Unsere Untersuchungen legen nahe, dass das Innehalten eine von mehreren Praktiken ist, die für einen echten Dialog unerlässlich sind.

Äußern. Schließlich ist das Äußern der eigenen Stimme vielleicht einer der schwierigsten Aspekte dialogischer Führung. “Mutige Rede”, sagt der Dichter David Whyte in seinem Buch The Heart Aroused, “hat uns immer in Ehrfurcht versetzt”. Er meint, dass dies so ist, weil es unser Innenleben so offenbart. Das Äußern der eigenen Stimme hat damit zu tun, dass wir offenbaren, was für jeden von uns wahr ist, unabhängig von allen anderen Einflüssen, die auf uns einwirken könnten.
Im Dezember 1997 saß eine Gruppe hochrangiger russischer und tschetschenischer Beamter mit ihren Gästen an einem überfüllten Tisch im Präsidentenpalast in Tatarstan, Russland, mitten beim Abendessen. Zuvor war die Lage angespannt gewesen. Tschetschenien hatte kürzlich seine Unabhängigkeit durch einen Guerillakrieg und Angriffe auf die Russen behauptet. Sie hatten die Welt schockiert, indem sie das russische Militär zwangen, sich zurückzuziehen und ihren Forderungen nach Anerkennung als unabhängiger Staat nachzukommen. Die Tschetschenen misstrauten den Akademikern und westlichen Politikern, die alle in diesem Raum versammelt waren, zutiefst; die Tschetschenen befürchteten, dass sie russische Handlanger waren, die die Unabhängigkeit Tschetscheniens verhindern wollten. Die Russen fürchteten ihrerseits, einer ihrer Meinung nach äußerst beunruhigenden Situation weitere Legitimität zu verleihen.

Beim ersten Trinkspruch des Abends stand der Verhandlungsführer/Moderator der Sitzung auf und sagte: “Bis vor ein paar Tagen war ich bei meiner Mutter in New Mexico in den USA. Sie liegt an Krebs im Sterben. Ich habe lange überlegt, ob ich überhaupt hierher kommen soll, um an dieser Versammlung teilzunehmen. Aber als ich ihr sagte, dass ich kommen würde, um an diesem wichtigen Ort der Erde einen Dialog zwischen Ihnen allen zu ermöglichen, befahl sie mir zu kommen. Es gab keine Debatte. Also bin ich hier. Ich erhebe mein Glas auf die Mütter.” Es folgte ein langer Moment der Stille im Saal.

Es sind mutige Momente wie diese, in denen die eigene Stimme wirklich gehört wird. Äußerungen von solch tiefgreifender Direktheit können uns aus uns selbst herausheben. Sie zeigen uns einen breiteren Horizont und rücken die Dinge ins rechte Licht. Solche Momente erinnern uns auch an unsere Widerstandsfähigkeit und laden uns ein, stärker nach einem Weg durch die Schwierigkeiten zu suchen, mit denen wir konfrontiert sind: Wenn wir uns “bewegen”, indem wir unsere authentische Stimme sprechen, setzen wir eine neue Ordnung der Dinge in Gang, eröffnen neue Möglichkeiten und schaffen.

Die Qualität des Handelns verändern

Dialogische Führungskräfte kultivieren diese vier Dimensionen – Zuhören, Respektieren, Innehalten, und Äußern – in sich selbst und in den Gesprächen, die sie mit anderen führen. Dadurch verändert sich die Qualität der Interaktion spürbar und damit auch die Ergebnisse, die Menschen erzielen. Wenn wir das nicht tun, verengt sich unser Blick und wir sind blind für Alternativen, die allen dienen könnten.
In der Geschichte über die Monsanto-Fusion beispielsweise schienen die CEOs die Kohärenz der Ansichten des jeweils anderen nicht zu respektieren. Jeder fand den anderen mehr und mehr inakzeptabel. Das Paradoxe daran ist, dass das Suspendieren der eigenen Ansichten und das Zulassen der Möglichkeit, dass die Sichtweise des anderen eine gewisse Berechtigung haben könnte, eine Tür öffnen könnte, die sonst verschlossen wäre. Indem sie sich auf ein starres Handlungsschema festlegten, schlossen diese Führungskräfte einen qualitativ anderen Ansatz aus – einen Ansatz, den sie hätten wählen können, wenn sie die vier oben beschriebenen dialogischen Praktiken angewandt hätten.

Dialogische Führung lenkt die Aufmerksamkeit auf zwei Ebenen gleichzeitig: auf die Art der Handlungen, die Menschen während einer Interaktion ausführen, und auf die Qualität dieser Interaktionen. Kantors Modell ist ein wirksames Hilfsmittel, um die fehlende Ausgewogenheit der Handlungen in jedem Gespräch zu diagnostizieren. Indem Sie bemerken, welche Perspektive fehlt, können Sie darüber nachdenken, warum dies so ist, und schnell wertvolle Informationen über die Situation als Ganzes gewinnen.

Dialogische Führung kann überall und auf jeder Ebene einer Organisation passieren: Wenn Menschen die oben beschriebenen Prinzipien anwenden, lernen sie, gemeinsam zu denken, und erhöhen so die Wahrscheinlichkeit, dass sie die weitreichenden Beziehungen aufbauen, die für den Erfolg im neuen Miteinander erforderlich sind.

Wann Partizipation zu Frust führt

Leiter der Partizipation

Nicole Werner

Facilitator & Coach

Wann Partizipation zu Frust führt

Diskrepanzen beim Einbezug von Mitarbeitenden lassen Produktivität und Motivation sinken

Diesen Artikel schreibe ich für Führungskräfte, Verwaltungsräte und Geschäftsleitungen, die vor grundlegenden Veränderungen in ihren Organisationen stehen. Wer sich bewusst ist, wie Menschen und Organisationen durch Veränderungen hindurch gehen und was Fachkräfte demotiviert, kann nicht nur Produktivitätszahlen und Mitarbeitende besser halten, sondern auch sich selber einigen Stress ersparen.

Wie geht es Ihnen, wenn Ihnen jemand vorgibt, welches Ergebnis Sie anzustreben haben und auch wie Sie es zu erreichen haben, sie jedoch gar nicht wissen wozu? Zum Beispiel sagt Ihnen jemand um halb zwölf in der Nacht, Sie sollten im Zug von Zürich nach Genf fahren, aus Basel noch Leckerli (eine lebkuchenartige Spezialität aus Basel) holen und diese am nächsten Morgen um 7:30 Uhr in Genf abgeben. Wozu die Übung? Der Sinn und Zweck ist Ihnen unbekannt. Und was, wenn Sie die Leckerli in Genf am Flughafen kaufen? Sie wissen es nicht, doch wenn Sie nach 7:30 Uhr ankommen, werden Sie zur Verantwortung gezogen. (Schon ohne über Basel zu fahren gibt es keinen Zug aus Zürich, der vor 7:40 Uhr Genf erreicht.) Kommt Ihnen das irgendwie bekannt vor?

Etwa so geht es vielen Mitarbeitenden in Unternehmen. Sie sind verantwortlich für Ergebnisse, ohne ein Mitspracherecht bei Mitteln und Wegen zu deren Erreichen zu haben und ohne genau zu wissen, wozu sie tun, was sie tun. Insbesondere in Veränderungsprozessen ist es von grundlegender Wichtigkeit, dass die betroffenen Menschen wissen, wo es hingeht und wozu sie sich ins Zeug legen sollen. Geschäftszahlen allein sind ein Ergebnis, sie sind weder Sinn noch Zweck einer Organisation. Wer Mitarbeitende bei der Bestimmung von Zweck (WOZU?) und Weg (WIE?) nicht mit einbezieht, darf sich heutzutage nicht wundern, wenn Motivation und Produktivität in den Keller gehen. In einem komplexen Umfeld sind jene Organisationen erfolgreich, welche die Betroffenen zu Beteiligten machen.

Das war einmal anders. Im letzten Jahrhundert waren noch mehr Mitarbeitende auf den unteren Stufen der Leiter der Partizipation (s. Titelbild) zufrieden, wenn sie mit der Ausführung zugewiesener Aufgaben (Anweisungen) ihren Lebensunterhalt sichern konnten. Heute haben gut ausgebildete Fachkräfte vermehrt eigene Ideen und Vorstellungen. Ihnen reicht es auch nicht, nur angehört oder informiert zu werden zu Entscheidungen, die sie zwar nicht mittragen können, deren Konsequenzen sie jedoch mitverantworten sollen. Zudem sind Unternehmen für ihren Erfolg in einer komplexen Welt auf die kollektive Intelligenz und Kreativität ihrer Mitarbeitenden angewiesen.

Gut ausgebildete Fachkräfte gehen heutzutage nicht mehr in erster Linie arbeiten um Geld zu verdienen, ihre Grundbedürfnisse zu sichern und ihre Familien zu ernähren. Es geht ihnen vermehrt darum, den Sinn in ihrer Arbeit zu erkennen, selber zu besseren Lösungen beitragen und sich weiter entwickeln zu können. Unternehmenserfolge basieren auf kreativ mitdenkenden Mitarbeitenden, die Initiative ergreifen und aktiv Verantwortung für die Gestaltung der Wege zum Ziel übernehmen – also nicht nur Ausführende und Schuldige sind, wenn die Ergebnisse nicht stimmen. Oftmals sind die Manager von heute die Mitarbeitenden von gestern. Einbezug der Mitarbeitenden in unternehmerische Entscheidungen sind ihnen fremd und verunsichern sie. “Können wir das den (jungen) Leute denn zumuten?”, “Können sie das beurteilen?” oder “Dauert es nicht zu lange, wenn wir sie auch noch fragen?” sind Zweifel, die im Management auftauchen, wenn es um mehr Partizipation der Mitarbeitenden geht.

Ein Beispiel aus der Praxis

In meiner Arbeit mit einem Management-Team begegnete mir vergangene Woche wieder einmal die grosse Sorge um die Zufriedenheit der Mitarbeitenden und um den Mangel an geeigneten Fachkräften. Das Unternehmen, ein kleines KMU, das vor rund einem Jahr aus mehreren Eigentümerfirmen ausgelagert wurde, steckt also mitten in einer grossen Veränderung. Die heutigen Aktionärsfirmen beziehen heute externe Dienstleistungen durch das KMU, die sie zuvor in ihren verwaltungsähnlichen Strukturen selber erbracht hatten. Neben der strukturellen und kulturellen Veränderung schlagen «Altlasten» aus der Vergangenheit und ungleiche Lastenverteilungen unter den Aktionären auf die Gemüter.

Die langjährigen Mitarbeitenden mehrerer verwaltungsähnlicher Organisationen sind verunsichert, denn sie wurden in die neue Organisation «ausgelagert» und sollen nun in kurzer Zeit unternehmerisch denken und Verantwortung übernehmen, wo sie vor kurzem nicht einmal mitreden durften. Dieses Umdenken findet nicht von allein statt, sondern es braucht Zeit und Vertrauen. Vertrauen auf Seiten der Aktionäre, dass das Unternehmen mittelfristig profitabel wird. Und Vertrauen auf Seiten der Mitarbeitenden des KMU, dass sie nicht für Ergebnisse und Altlasten zur Verantwortung gezogen werden, für deren Entstehung sie nichts können.

Wie so oft scheint jedoch auch hier die Erwartung der Eigentümer – die Produktivität möglichst stabil zu halten – ohne dem in Transformationsprozessen üblichen temporären Produktivitätsabfall Rechnung zu tragen (schwarze Veränderungskurve in der Abbildung). Es kommen Ängste auf, die Produktivitätszahlen sind zu tief, es braucht schnell Lösungen.

Abb.: Motivation und Produktivität sinken in Veränderungsprozessen zunächst (schwarze Kurve), bevor sie langfristig steigen können. Ein höherer Beteiligungsgrad der Mitarbeitenden kann dabei helfen. Eine Diskrepanz zwischen der Beteiligung an der Bestimmung des Weges zum Erfolg (Strukturen & Prozesse) und der Beteiligung an der Verantwortung für die Ergebnisse (Produktivität & Umsatz) verlängert in der Regel die Verweildauer im Tal der Tränen.

Im «Tal der Tränen» lässt der Verwaltungsrat nun die Produktivitätszahlen der Menschen im Unternehmen engmaschig kontrollieren, weil er sich aus der Fehleranalyse eine raschere Steigerung der verrechenbaren Dienstleistungen erhofft. Faktisch erreichen die Verantwortlichen mit ihren Massnahmen das Gegenteil: Unmut sowie frustrierte und verängstigte Mitarbeitende sind die Folge von Kontrolle und Druck. Zudem eilt der lange Schatten des Firmenrufs, wie so häufig, den Ereignissen voraus und erschwert die Suche nach neuen Fachkräften.

Unternehmerisches Denken und attraktive Arbeitgeber basieren auf Beteiligung – nicht nur finanziell

Wieder zurück zur Rolle der Partizipation: Im geschilderten Fall stellen die strategischen Entscheidungsträger die Mitarbeitenden bezüglich der unternehmerischen Verantwortung – das heisst Verantwortung für Umsatz- und Produktivitätszahlen – auf die Stufe der Einbeziehung. Konkret werden die Zahlen wöchentlich geprüft und jede:r einzelne Mitarbeiter:in mit zur Verantwortung gezogen, wenn die Ergebnisse aus Sicht des Verwaltungsrates nicht stimmen. Bezüglich der Strukturen und Prozesse im Unternehmen erhalten die Mitarbeitenden zugleich lediglich Anweisungen oder Informationen von oben. Sie haben weder die Möglichkeit selber mitzuentscheiden, welche Strukturen und Prozesse zu besseren Zahlen führen könnten, noch haben sie mit nur einem Jahr ausreichend Zeit gehabt, Altlasten zu beseitigen und eine Kultur des unternehmerischen Handelns zu etablieren.

Diese Diskrepanz im Grad der Beteiligung führt zu Frust und Unmut. Hier wäre ein erster Schritt, diese Unstimmigkeiten konsequent zu beseitigen. Wer lediglich Anweisungen gibt, sollte selber die volle Verantwortung für die Unternehmensergebnisse übernehmen. Wer Mitarbeitende mit entscheiden lässt, darf ihnen auch Teile der Verantwortung für die Ergebnisse übertragen – sofern er ihnen für das Abarbeiten von Altlasten, das Umlernen und den Kulturwandel ausreichend Zeit lässt.

Durch mehr Partizipation aus dem Tal der Tränen

Es geht also darum zu entscheiden, auf welcher der Stufe der Partizipationsleiter das Unternehmen sich zu welchen Themen positioniert und nicht beliebig die Stufen zu wechseln. Unternehmen, die schon heute mit Fachkräftemangel zu kämpfen haben, sind gut beraten, die Leiter der Partizipation schrittweise nach oben zu erklimmen, um als attraktive Arbeitegeberin motivierte junge Menschen anzuziehen und damit zum Ausstieg aus dem Tal der Tränen beizutragen.

Welches Unternehmen würden Sie wählen, wenn Sie als junge, gefragte Fachkraft ihre Arbeitgeberin auswählen könnten – jenes Unternehmen, welches sie kontrolliert und bestraft, wenn Sie die vorgegebenen Ergebnisse nicht erreichen oder jenes, welches Ihnen vertraut und Sie auf dem Weg zum langfristigen Unternehmenserfolg beteiligt?

Und wie würden Sie ihren Kunden in Genf überraschen, der Sie kurz vor Mitternacht darüber informiert, dass in seinen Teamsitzungen die beste Stimmung herrscht, wenn es Lebkuchen gibt und er am kommenden Morgen gemeinsam mit seinem Team über den Vertragsabschluss mit Ihrem Unternehmen entscheiden wird?

 

 

Tun ist wie drüber reden – nur krasser!

Nicole Werner

Facilitator & Coach

Erste Schritte zur Implementierung von Selbstorganisation in einem Verein

Seit gut einem Jahr bin ich im Vorstand eines Vereins von Organisationsberater*innen. Dieses exklusive Netzwerk feierte vor zwei Jahren sein 25-jähriges Jubiläum. Dies war die letzte der stets im Januar stattfindenden dreitägigen Jahrestagungen, zu der sich die Mehrheit der Mitglieder physisch traf, bevor Corona unsere Begegnungsmöglichkeiten stark einschränkte.

Hier möchte ich nicht über Corona und die damit verbundenen Herausforderungen für viele Vereine, Netzwerke und Communities weltweit schreiben. Ich möchte über die Möglichkeit schreiben, die mir dieser Verein gab und gibt, den Transformationsprozess hin zu einer selbstorganisierten Community mitgestalten zu dürfen. In meiner Arbeit als Beraterin für Führungs- und Organisationsentwicklung begleite ich Menschen und Organisationen als Außenstehende. Ich weiß ob der Unsicherheiten und inneren Widerstände, die mit großen Veränderungen bei den Betroffenen einher gehen. Im Vorstand dieses Vereins habe ich nun die Gelegenheit und das große Glück, diese Gefühle als Beteiligte in der Führung erfahren zu dürfen – praktisch zu erfühlen.

In unserem vierköpfigen Vorstand hatten wir über die letzten Monate für alle Mitglieder eine aufwändige Tagung mit externen Referent*innen zum Thema Führungsentwicklung aufgegleist, als im Dezember Omikron näher kam und sich schließlich ein Großteil der Mitglieder gegen die physische Anwesenheit entschied. Einige äußerten jedoch explizit ihren Wunsch nach physischer Verbindung.

So entschieden wir im Vorstand, die ursprünglich geplante große Jahrestagung abzusagen zugunsten von Raum für verbindendes Beisammensein und allenfalls die Gelegenheit zu nutzen, um im kleineren Kreis die Führung in unserem Verein zu thematisieren; nicht zuletzt auch, weil andernfalls hohe Hotelstornierungskosten auf den Verein zugekommen wären und wir zu viert durch die mit Corona verbundenen Herausforderungen an unsere Belastungsgrenzen gekommen waren.

Einzelne Mitglieder äußerten ihre nachvollziehbaren Bedenken, ein so wichtiges Thema nur in einer kleinen Gruppe ohne größtmögliche Beteiligung anzugehen. Dennoch führten wir letzte Woche unsere dreitägige Jahrestagung in einem sehr viel kleineren Rahmen als sonst durch. Nur 14 unserer knapp 80 Mitglieder trafen sich physisch.

Transformation in mehreren Stufen

Zum Hintergrund: Während eines rund dreijährigen Transformationsprozesses zwischen 2016 und 2019 hatten die rund 80 Organisationsberater*innen und Prozessbegleiter*innen in unserem Verein entschieden, von einem Netzwerk zu einer selbstorganisierten Community zu werden. Drei Jahre, in denen gemeinsam viel über Selbstorganisation und Partizipation diskutiert und philosophiert wurde; eine Zeit, in der alle viel lernten über Methoden und Konzepte zur Umsetzung von Agilität und Selbstorganisation zugunsten von evolutionären Organisationen.

Seither bezog das Vorstandsteam einzelne Mitglieder in die zweimal im Jahr durchgeführten Tagungen mehr ein als zuvor üblich, bis hin zur Jubiläumstagung 2020, zu der fast alle anwesenden Mitglieder einen Beitrag leisteten. Was sich nicht änderte, war die interne Struktur des Vereins selber. Der vierköpfige Vorstand blieb auch nach 25 Jahren weiter an der Spitze, wenngleich mit drei neuen Köpfen im Team. Zudem war wenig transparent, was Community für die einzelnen Mitglieder bedeutete.

Ein wichtiger Aspekt von Community ist aus meiner Sicht, in wertschätzender Verbindung miteinander gemeinsam das zu gestalten und umzusetzen, wozu es die Community gibt. Mit anderen Worten: Es obliegt nicht allein dem Vorstand, die anfallenden Aufgaben zu erledigen und die Wünsche der Mitglieder zu erfüllen. Dies ist Aufgabe aller. Doch was braucht es, damit Mitglieder in die Verantwortung gehen – und das möglichst lustvoll und engagiert?

Seit nun mehr als 25 Jahren übernimmt der vierköpfige Vorstand in wechselnder Besetzung die wichtigen Funktionen der Tagungsvorbereitungen, Mitglieder- und Vereinsadministration, Buchhaltung und Kommunikation. Die damit verbundenen Aufgaben haben die Vorstandmitglieder ehrenamtlich erledigt. Darüber hinausgehende Ressourcen für die aktive Gestaltung und Veränderung der Strukturen und Prozesse des Vereins fehlten. Dieses Phänomen kenne ich als systemische Beraterin aus meiner Arbeit mit Führungskräften in Organisationen nur zu gut: Mit dem einseitigen Fokus auf das operative Schuften im System geht die gestalterische Arbeit am System unter.

« Mit dem einseitigen Fokus auf das operative Schuften im System geht die gestalterische Arbeit am System unter.»

Letzte Woche haben wir in der 14-köpfigen Gruppe der Anwesenden einen entscheidenden Schritt getan in Richtung von mehr Partizipation. Gemeinsam haben wir die interne Neustrukturierung sowie die nachhaltige Beteiligung aller Mitglieder aufgegleist, ohne inhaltlich Beschlüsse über die Köpfe der nicht Anwesenden hinweg zu fällen. Das Ergebnis: Über das kommende Jahr hinweg wird eine Arbeitsgruppe am System unseres Vereins arbeiten. Alle Vereinsmitglieder sind eingeladen, sich für die Mitarbeit in dieser Gruppe zu melden, welche Vorschläge zur Anpassung der Strukturen und Prozesse erarbeiten wird. Das Los wird darüber entscheiden, wer von den Interessierten dieser 8-köpfigen Arbeitsgruppe angehört. Wir werden lediglich darauf achten, dass mindestens ein Neumitglied dabei ist und dass Frauen und Männer paritätisch vertreten sind.

Das Ringen um die nächsten Schritte

Aus der «Position an der Spitze» durfte ich mit meinen Vorstandskolleg*innen einen zweitägigen Gruppenprozess einleiten, in den sich alle Anwesenden einbringen konnten. Es war kein externes Beratungsmandat, kein Workshop, in dem ich andere begleitete, sondern ich und wir alle waren Teil des Systems. Wir haben nicht über Modelle geredet, wie «man es tun sollte oder könnte». Partizipation und Selbstorganisation waren keine Schlagworte, sondern wir erlebten in der Gruppe unmittelbar, was dazu gehört und wie fordernd es für die Beteiligten sein kann.

Wir starteten zunächst mit einem breiten Themenspektrum, das wir aus dem Kreis der Anwesenden zur gemeinschaftlichen Bearbeitung zum Einstieg sammelten. Eines von mehreren Themen war die Führung in unserem Verein. Die Gruppe entschied am Beginn des zweiten Tages gemeinsam, andere Anliegen zugunsten dieses Themas zurückzustellen – nachdem am Vorabend bereits Fragestellungen Einzelner aus der Gruppe aufgenommen worden waren.

Nun begann das Ringen. Die einen erwarteten vom Vorstand, mehr Struktur vorzugeben, weniger loszulassen. Andere forderten uns auf, mehr loszulassen und auch physisch im Raum aus der frontalen Position in den Kreis der Gesamtgruppe zurückzutreten. Immer wieder war ich hin- und hergerissen zwischen meinen inneren und den äußeren Stimmen. Wie die anderen im Raum musste ich mich einlassen auf das, was im Moment entstand.

Wir tauchten ein in einen intensiven Prozess des Sich-Einbringen-Könnens und -Sollens, des gemeinsamen Suchens und Aushaltens von unangenehmen Gefühlen wie Ungeduld, Unsicherheit, Irritation und Spannung, wie sie in gruppendynamischen Prozessen nun einmal entstehen. Es war ein Ringen darum, wie es in dieser Gruppe weitergehen könnte und sollte.

Faktoren des Gelingens

Im Laufe des Prozesses zeigten sich mir entscheidende Faktoren des Gelingens: Eine klare Vision und eine Gruppe von Menschen, die diese Vision teilen. Ausreichend Beteiligte, die im Interesse des großen Ganzen immer wieder ihre eigenen Vorstellungen zurückstellen davon, was gerade aus ihrer Sicht das richtige Vorgehen wäre. Und die innere Kapazität, Verantwortung für die eigenen unangenehmen Gefühle übernehmen zu können und diese nicht auf andere abzuwälzen.

Als Vorstand trugen wir dazu bei, indem wir zum Einstieg die Rahmung für ein vertrauensvolles Miteinander schafften, indem wir uns selber verletzlich und angreifbar machten und indem wir aus der Steuerung gingen. Nicht zuletzt war es auch die kleine Gruppengröße, welche dies alles ermöglichte. Möglicherweise verdanken wir es also auch Omikron, dass wir nun einen neuen Weg einschlagen können.

Die Anwesenden Berater*innen kannten Tools und Methoden zur Selbstorganisation und Partizipation. Einige wenige dieser Instrumente wendeten wir tatsächlich an. In meiner Wahrnehmung war es vor allem die liebevolle Verbundenheit untereinander, die es uns ermöglichte, uns uns gegenseitig immer wieder zuzumuten und in der intensiven Zeit mit Irritationen und Spannungen zu einem Wunder vollen und fruchtbaren Ergebnis zu kommen.

« In meiner Wahrnehmung war es vor allem die liebevolle Verbundenheit untereinander, die es uns ermöglicht hat, uns uns gegenseitig immer wieder zuzumuten…»

Am Ende eines intensiven zweiten Tages waren wir alle erschöpft. Nicht nur die Anwesenden aus dem Vorstand waren erleichtert und glücklich darüber, dass «der Paradigmenwechsel nun eingeläutet ist», wie es einer der Beteiligten später in der offiziellen virtuellen Mitgliederversammlung formulierte.

Ich bin unbeschreiblich glücklich über und dankbar für diese Lern- und Entwicklungsgelegenheit. Albert Einstein wusste: «Lernen ist Erfahrung. Alles andere ist einfach nur Information.» Es ist ein großes Geschenk für mich, als normalerweise außenstehende Beraterin selber erfahren zu dürfen, was es bedeutet, an der Spitze einer Organisation Macht abzugeben und Verantwortung zu teilen.

Der Weg ist steinig, es gibt böigen Gegenwind, Spannungen und Kritik, und es ist für alle Mitglieder herausfordernd – wie eine Hochgebirgstour. Doch nach den Erfahrungen der letzten Woche bin ich überzeugt, es lohnt sich – der Blick vom Gipfel wird uns belohnen. Durch das zukünftige Verteilen der Funktionen auf die ganze Community können wir die kollektive Intelligenz der Vereinsmitglieder anzapfen. Nun entsteht Raum für die Arbeit an den Strukturen und Prozessen unseres Vereins.

Ein langjähriges Mitglied sagte mir zum Abschluss: «Das war eine der besten Jahrestagungen, die ich in den vielen Jahren erlebt habe.» Das macht mich glücklich und ja, ich gebe es zu, auch ein wenig stolz.

Kapazitäten für eine komplexe Welt

Wie uns Selbststeuerung im eigenen Bewusstsein hilft, uns durch die Untiefen der VUKA-Welt zu navigieren

von Nicole Werner

Über mehrere Jahrzehnte haben Organisationen erfolgreich in Expansion, Effizienzsteigerung, Technologie und Know-How investiert, um Wachstum und Wohlstand zu sichern. Seit einiger Zeit rücken die Grenzen dieses Wachstums näher. Die globalen Märkte sind enger geworden, Effizienz und Wissen allein reichen nicht mehr, um die gegenwärtigen Herausforderungen zu meistern. Unvorhersehbare Wechselwirkungen nehmen uns zuvor gefühlte Sicherheit und Orientierung. Es scheint an der Zeit, dass wir ganz neue Denk- und Handlungsmuster entwickeln, um für die sich entfaltende, ungewisse Zukunft fit zu sein. Wer die nötigen Kapazitäten zur Selbststeuerung entwickelt hat, wird die Wellen der unkontrollierbaren Dynamiken unserer Zeit souveräner zu reiten imstande sein.    

Um uns herum verändert sich die Welt in rasanter, zuvor unbekannter Geschwindigkeit. Die Rede ist von einer Welt, in der Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität zunehmen, die sogenannte VUKA-Welt. Heutzutage gibt es so viele Dinge, mit denen wir uns täglich beschäftigen, die unvorhersehbar sind, und es gibt keine Möglichkeit zu wissen, wie diese interagieren werden. Es sind die Wechselwirkungen all dieser unvorhersehbaren Elemente, die Komplexität erzeugen. Je mehr wir miteinander verbunden sind und je schneller sich die Dinge ändern, desto komplexer ist unsere Welt.

Die Corona-Pandemie, die digitale Transformation und der Klimawandel zeigen uns, dass alte Führungsinstrumente, die uns halfen zu kontrollieren, vorherzusagen und zu planen, immer öfter scheitern. Die Denk- und Handlungsmuster der Vergangenheit eignen sich nicht mehr, um die Lösungen für die Herausforderungen der Zukunft zu erzeugen. Häufig wird an dieser Stelle Albert Einstein zitiert: «Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.» Wohlgemerkt sagte er «Denkweise», er sagte nicht «Technologie», «Theorie» oder «Meinung». Vielfach hören wir heute auch, es brauche einen Bewusstseins- oder Haltungswandel (Stichwort Mindest). Was aber ist damit gemeint?

Der Übergang zu einer neuen Denkweise oder einem neuen Bewusstsein ist nicht nur kognitiv über mehr Wissen und Verstehen erlernbar. Er erfordert die Transformation des Denkens und Verstehens an sich. Solche Übergänge waren etwa die Transition vom geozentrischen zum heliozentrischen Weltbild oder vom Gedankenmodell der klassischen Mechanik zu dem der Quantenmechanik. Ein Pendant auf gesellschaftlicher Ebene dürfte der Übergang von der Aristokratie zur Demokratie (gewesen) sein, welcher noch heute in Teilen der Welt andauert. Aus unserer «westlichen» Perspektive rückblickend scheinen diese Transitionen klar, kaum überraschend zu sein. Von der Vergangenheit aus betrachtet sind es schwer vorstellbare Wandlungen, die zum Zeitpunkt ihres Entstehens komplett neue Denk- und Handlungslogiken erforderten und daher auch Jahrzehnte bis Jahrhunderte andauerten.

Erfolgreiche Denk- und Handlungsmuster der Vergangenheit

In der Zeit der Globalisierung brachte die Expansion der Märkte zunächst ein enormes Wirtschaftswachstums mit sich. Zudem brachten Produktivitätssteigerungen den für das wachstumsbasierte Wirtschaftsmodell erforderlichen Zuwachs. Die erfolgsbringende Denkweise der vergangenen Jahrzehnte war es, auf abflachende Kurven von Wachstumssteigerung mit Effizienzgewinnen, verbesserten Organisationsstrukturen und -prozessen, technischem Fortschritt sowie Mehreinsatz von Arbeit und Kapital zu reagieren – bis an die Grenzen des Machbaren. Ein wichtiges Erfolgsrezept dafür waren äussere Anreize wie Kontrolle und leistungsabhängige Beurteilungen der Mitarbeitenden sowie damit verbundene Bonuszahlungen. Die globale Expansion sowie die Steigerung und Kontrolle individueller Leistung waren ein erfolgsbringender Beitrag zur Wohlstandsmaximierung.

Heute sind die globalen Märkte nahezu abgedeckt. Wie zu Zeiten der Manufakturen im 18. und 19. Jahrhundert sind es im 21. Jahrhundert wieder vermehrt Kreativität, Innovation und Qualität, welche wirtschaftlichen Erfolg in engen, gesättigten Märkten sichern – und weniger das expansive, auf Produktivitätssteigerung basierende Wachstum.

Hinzu kommt, dass immer mehr Menschen eine sehr gute und spezialisierte Ausbildung mitbringen. Diese Menschen lassen sich immer weniger von ihren Vorgesetzten mit oft überholtem Wissen sagen, was sie wie und in welcher Geschwindigkeit zu tun und zu lassen haben. Für viele Menschen der jüngeren Generationen sind Boni und «Fringe Benefits» weniger reizvoll als intrinsische Motivation, sinnvolle Arbeit und «Quality Time». Sie entziehen sich dem alten Prinzip des «Command & Control», wo sie können (unus MunDus 2017). Gesuchte Fachkräfte schöpfen ihre Motivation aus der eigenen Kreativität. Wer diese Menschen nicht an Entscheidungsprozessen teilhaben lässt, hat schnell demotivierte Mitarbeitende, die nur einen Teil ihres vollen Potenzials zur Arbeit mitbringen oder gleich kündigen.

Der Weg zu mehr Partizipation und Selbstorganisation

Das Paradigma von Leistungs-Kontrolle hat also in weiten Teilen ausgedient. Dennoch fällt es vielen Führungskräften schwer, ihren Mitarbeitenden mehr Verantwortung zu übertragen und auf deren Selbstverantwortung zu vertrauen. Dies zeigt sich aktuell daran, dass sich Unternehmen sogar während der Corona-Pandemie noch schwer tun mit der Einführung des Home Office. Führungskräfte fragen uns «Wie soll ich Verantwortung und Kontrolle an meine Mitarbeitenden abgeben, wenn ich doch in der Verantwortung bin?» Für viele ist dies ein Dilemma, vor dessen Auflösung sie kapitulieren – verständlicherweise, denn den meisten Führungskräften fehlte bisher ein Arbeitsumfeld, in dem sie die neue Denkweise für dieses Vertrauen hätten entwickeln können.

Zugleich streben immer mehr Unternehmen mehr Partizipation und Selbstorganisation an. Beratungsunternehmen spezialisieren sich darauf Organisationen beizubringen, wie Selbstorganisation gelingen kann. Es gibt kaum noch Berater:innen, die nicht Seminare zu Scrum, Kanban, Soziokratie, Holokratie oder ähnlichen Prozess-Rahmenwerken und Organisationsformen besucht haben. In vielen Organisationen haben Teams begonnen, mit diesen und anderen agilen Rahmenwerken der Selbstorganisation zu arbeiten und schreiben sich gern auf die Fahnen «agil» zu sein. Bei genauerer Betrachtung sind dies zumeist kleinere Inseln in Organisationen, auf denen nach wie vor die klassische Managementhierarchie und -logik wirksam sind. Was macht es so schwer loszulassen, Partizipation zu fördern und in die Selbstorganisation der Mitarbeitenden zu vertrauen?

Die Entwicklung neuer Denk- und Handlungsmuster braucht Übung und Zeit

Zunächst einmal ist da der Faktor Erfahrung: Selbstorganisation braucht Übung, Spielraum zum Experimentieren und die Bereitschaft zum Scheitern. Sowohl Mitarbeitende als auch deren Führungskräfte, die bisher auf Anweisungen von oben gewartet haben, können nicht von einem Jahr zum nächsten selbstorganisiert arbeiten. Langjährige Unternehmenskulturen, in denen bisher bei Fehlern nach Schuldigen gesucht wurde, Konflikte nach oben eskaliert oder vermieden wurden und der Chef das letze Wort hatte, lassen sich nicht in wenigen Monaten umstülpen.

Es braucht neue Strukturen und Prozesse, auf die es sich zu verständigen gilt und die gemeinsam eingeübt werden müssen. Da es einfacher ist, sich in neue Denkmuster hineinzuhandeln als sich in neue Handlungsmuster hineinzudenken, ist das Einstudieren neuer Abläufe ein geeigneter Startpunkt. Wer erfolgreich und nachhaltig die Transition in die Selbstorganisation meistern möchte, für den/die fängt nach Einführung neuer Prozessrahmenwerke und Organisationsformen die eigentliche Arbeit jedoch erst an. Frei nach Grady Booch ist ein Narr mit einem Werkzeug noch immer ein Narr (“A fool with a tool is still a fool.”). Neben den Werkzeugen, mit welchen die Mitarbeitenden neue Handlungsmuster einüben, braucht es auch die aktive Förderung neuer Denkmuster.

Selbstorganisation von Gruppen setzt die Fähigkeit zur Selbststeuerung der Einzelnen voraus, insbesondere der Führungskräfte (1). Neue Denkmuster entstehen durch die Förderung der inneren Entwicklung der Einzelnen. Hier fehlt in vielen Organisationen, die agiles, selbstorganisiertes Arbeiten anstreben, der Blick, die Sensibilität und vor allem der lange Atem. Diese persönlichen Kapazitäten, die es Menschen ermöglichen die VUKA-Welt zu navigieren, lassen sich nicht nur in einem Workshop oder über die Lektüre von Büchern erlernen. Die gute Nachricht: VUKA-Kapazitäten sind entwickelbar. Die weniger gute Nachricht: Entwicklung braucht neben der Bereitschaft der Person vor allem eines – Zeit für den Prozess.

Innere Reife für ein stabiles Ich

Zum Umgang mit dem hohen Mass an Freiheit, das in der Selbstorganisation liegt, brauchen Menschen eine gereifte Persönlichkeit. Persönliche Reife zeichnet sich aus durch ein hohes Mass an Selbstkompetenz. Es ist die Fähigkeit zur Selbstwahrnehmung und Selbstregulation. Um in der VUKA-Welt agil und leistungsstark agieren zu können, braucht es ein stabiles Ich, das dem Individuum innere Stabilität verleiht in einer Aussenwelt, die alles andere als stabil und vorhersehbar ist.

Das Konzept der inneren Reife, Erwachsenenentwicklung oder vertikaler Entwicklung (2) geht davon aus, dass Menschen bei angemessenen Möglichkeiten ihre Kapazität erhöhen, mit Komplexität umzugehen sowie Weisheit und emotionale Reife entwickeln können. Diese Facetten ermöglichen es ihnen, in einer zunehmend volatilen, unsicheren und mehrdeutigen Welt effektiv zu managen und zu führen – sich selbst und andere.

Die Stabilität des Ichs nimmt mit zunehmender innerer Reife zu. Nur wer sich auf den Weg macht, das Selbst zu verstehen, kann Fortschritte in Bezug auf Entwicklung und Wachstum erzielen – und wissen, welche Stärken zu nutzen sind. Das Mass an persönlicher Reife eines Menschen ist bestimmt durch drei wesentliche Kapazitäten, welche auf jene Kernkompetenzen einzahlen, die es Menschen ermöglichen, die VUKA-Welt zu navigieren: Persönliche Kapazität (Selbstbeobachtung, Selbstregulation), zwischenmenschliche Kapazität (Perspektivenwechsel) und konzeptuelle Kapazität (Komplexitätsverarbeitung und Fluidität des Denkens).

Der Bereich der konzeptuellen Kapazität ist eine Erweiterung des traditionell kognitiven Bereichs und umfasst die «denkende» Seite des Einnehmens von verschiedenen Perspektiven sowie die Fähigkeit, mit konzeptioneller Komplexität und dialektischen oder relativistischen Ansätzen umzugehen. Die zwischenmenschliche Kapazität umfasst die aktive Seite des Perspektivenwechsels und schliesst die Kommunikation mit anderen ein. Der Bereich der persönlichen Kapazität umfasst die Selbstregulierung und Selbstbeobachtung. Die Abbildung veranschaulicht, dass bei der Nutzung und Entwicklung dieser Kapazitäten eine Reihe von Kreisen gegenseitigen Einflusses eine Rolle spielen. Das Konzeptuelle und das Persönliche informieren sich ständig gegenseitig, während das Zwischenmenschliche auf beide einzahlt und von beiden stets beeinflusst wird.

 

 

Für die Entwicklung der Persönlichkeit sowie persönliche und berufliche Zufriedenheit ist eigene Selbsterkenntnis unabdingbar. Erst wer weiss, wer sie/er ist und was sie/er in diese Welt bringen möchte, kann zu Höchstleistungen auflaufen. Wer sich dann in einem Gleichgewicht zwischen Über- und Unterforderung dem widmet, arbeitet im Flow (gemäss Mihaly Csikszentmihályi) und intrinsisch motiviert. Ebenso gehört die Kenntnis der eigenen Stärken und Schwächen zur Selbsterkenntnis einer stabilen Persönlichkeit.   

Individuelle Selbststeuerung als Voraussetzung für kollektive Selbstorganisaton

Führen heisst in erster Linie sich selbst führen. Dies ist die Fähigkeit zur Selbststeuerung im eigenen Bewusstsein. Emotions- und gewohnheitsbedingtes Reiz-Reaktionsverhalten kann dadurch gestoppt werden.

Der Kern der Selbststeuerung einer stabilen Persönlichkeit liegt im Wissen um die eigenen Muster in der zwischenmenschlichen Interaktion. Wer es versteht, sich bei Reizen von aussen selbst zu beruhigen und den Abstand für eine angemessene Reaktion zu schaffen, ist in der Lage mit Gleichmut auf seine Umwelt zu reagieren. Bei Überforderung und Stress reagiert unser Gehirn mit der Ausschüttung von Stresshormonen. Flucht, Angriff oder Starre sind die unmittelbaren Reaktionen, sofern wir nicht gelernt haben uns selbst zu beruhigen.

Die Fähigkeit zur Impulskontrolle, Selbstberuhigung und dazu, die Angemessenheit einer Reaktion zu bewerten, liegt im neuesten Teil unseres Gehirns, dem präfrontalen Kortex. Diese wichtige Schaltzentrale unseres Gehirns lässt sich trainieren über Meditation, autogenes Training, Yoga, Selbsthypnose und andere Achtsamkeitspraktiken. Dabei kommt es nicht darauf an, dass es gelingt, sich auf eine beliebige Weise in einen entspannten Zustand zu versetzen, sondern dies aus eigener Kraft, ohne externe Hilfsmittel zu erreichen. Über regelmässige Übung kann es einer Person so gelingen ein Mass an Selbstregulation zu erreichen, das es ihr ermöglicht, eigene Emotionen wahrzunehmen und sich einen Zeit-Raum zu schaffen, in dem sie eine angemessene Reaktion auf äussere Reize produzieren kann. Mit den Worten Viktor Frankls: «Zwischen Reiz und Reaktion liegt ein Raum. In diesem Raum liegt unsere Macht zur Wahl unserer Reaktion. In unserer Reaktion liegen unsere Entwicklung und unsere Freiheit.»

Dies ist nicht zu verwechseln mit der Unterdrückung von Emotionen oder deren Umgehen durch sogenanntes «spiritual bypassing». Selbststeuerung heisst, sich diesen Emotionen nicht ausgeliefert zu fühlen sondern sie vielmehr wahrzunehmen und sich den Zeit-Raum zu schaffen zwischen Reiz und angemessener Reaktion. Personen, denen dies gelingt, vermeiden Schuldzuweisungen, verbale Fehltritte, sich Wegducken, unsachliche Kommentare und Verletzungen, welche das Vertrauen und die Integrität zwischen Menschen beschädigen. Menschen mit einer ausgeprägten Fähigkeit zur Selbststeuerung haben es nicht nur leichter in der Interaktion mit anderen. Sie werden von der Aussenwelt auch als gelassener, selbstsicherer und glaubwürdiger wahrgenommen.

Die Fähigkeit zur Selbststeuerung im eigenen Bewusstsein dient in allen zwischenmenschlichen Begegnungen dem Aufbau von Vertrauen und der Fähigkeit zum Umgang mit Konflikten. Nicht zuletzt fusst die Evolution der Menschheit auf der über die Jahrhunderte entwickelten Fähigkeit, die eigenen Impulse zu kontrollieren und der zunehmenden Fähigkeit zur Selbstreflexion. In Organisationen sind es die Führungskräfte, deren Verhalten das Klima und damit den Erfolg prägt. Führungskräfte, denen es gelingt über ein hohes Mass an Selbststeuerung Vertrauen und Integrität zu schaffen, kultivieren ein Klima, in dem Mitarbeitende sich entfalten und Konflikte konstruktiv austragen können. Zugleich unterdrücken sie damit den Missbrauch von Hierarchie und Macht und fördern Begegnungen auf Augenhöhe – in erster Linie, weil sie selber dazu fähig sind.

Ein solches Klima fördert das Vertrauen der Mitarbeitenden in die eigenen Kompetenzen und damit auch das Vertrauen, Herausforderungen gemeinsam meistern zu können. Mitarbeitende trauen sich, sich mit ihren Stärken und Schwächen zu zeigen, was die Zusammenarbeit und schliesslich die Fähigkeit zur kollektiven Selbstorganisation steigert.

Für die Entwicklung der persönlichen, zwischenmenschlichen und konzeptuellen Kapazität dienen einerseits Rahmenwerke, also geeignete Prozesse und Strukturen der Zusammenarbeit. Durch neue Formen der Zusammenarbeit erfahren sich Mitarbeitende neu im Umgang mit sich und mit anderen. Insbesondere Führungskräfte, die hier als Vorbilder dienen, brauchen jedoch auch Gefässe, in denen sie diese drei Kapazitäten gezielt weiter entwickeln können. Ein persönliches Entwicklungscoaching unterstützt gezielt dort, wo das Individuum in der eigenen Entwicklung ansteht. In speziell aufgebauten Trainings zur Führungs- und Teamentwicklung können zudem auch in einer Gruppe die persönliche Entwicklung in Abstimmung mit konkreten Führungs-, Organisations- und Businessthemen angegangen werden.

 

unus MunDus bietet gemeinsam mit Partner:innen verschiedene Instrumente zur gezielten Förderung der individuellen und kollektiven Entwicklung an. Für mehr Informationen zum Aufbau dieser neuen Denk- und Handlungsmuster stehen wir Ihnen gern zur Verfügung: info@unusmundus-consult.ch, Tel.: +41 76 430 94 88

 

Fussnoten:

(1) Die Einführung von mehr Partizipation und Selbstorganisation hat nicht grundsätzlich die Abschaffung von Führungskräften zur Folge.

(2) Innere Reife ist auch bekannt als vertikale Entwicklung, Ich-Entwicklung, Entwicklung des Selbst oder Erwachsenenentwicklung.

Warm Data

Warm Data

Nicole Werner

Facilitator

Neue Informationsformen zur besseren Bewältigung der komplexen Herausforderungen unserer Zeit 

Viele von uns wollen die Welt zum Besseren verändern. Oder wir wollen zumindest verhindern, dass es schlimmer wird. Sei es in einer Organisation oder in unserer Gesellschaft. Wir leben in einer Welt, in der sich fast alles, was wir tun um unsere Bedürfnisse zu erfüllen und unsere Träume zu verwirklichen, negativ auf unsere Umwelt auswirkt. Wie können wir mehr Teil der Lösung und weniger Teil des Problems werden?

Gegenwärtig gehört es zum guten Ton, sich individuell darum zu bemühen, den eigenen Lebensstil zu ändern, um den CO2-Ausstoß zu senken, Verschwendung zu bekämpfen und die Umwelt zu schonen. Nicht fliegen, weniger Fleisch essen, «Zero Waste» kaufen, zu grüner Energie wechseln usw. Eigene Maßnahmen ergreifen, ist die Devise. Das sind alles gute Absichten. Das ist es, was ich jahrelang tat – und ich glaubte wirklich daran, mein Bestes zu geben. Was ich tat, war vor allem Symptombekämpfung. Gut – und dennoch nicht genug. 

Was wir wirklich brauchen, ist systemischer Wandel und ein neues Bewusstsein. Und damit meine ich nicht, Politiker oder Wirtschaftsführer anzuprangern. Sie sind auch Teil dieses Systems. Wie wir alle. Sie haben gute Gründe für das, was sie tun und woran sie glauben. Wie wir alle.

Wie können wir also ein System von innen verändern? Wir sollten anfangen, es von innen heraus «transkontextuell» zu betrachten und uns nicht ausschliesslich darauf konzentrieren, es durch «objektive», quantitative Analysen verstehen zu wollen. Spätestens seit den Erkenntnissen aus der Quantenphysik wissen wir, dass die Beobachterin das beobachtete System verändert.

«Warm Data sind Informationen über die Zusammenhänge, welche die Elemente eines komplexen Systems integrieren» 

Nora Bateson (1) hat den Begriff «Warm Data» für die zusätzlichen qualitativen Daten geprägt, die wir benötigen. «Warm Data sind Informationen über die Zusammenhänge, welche die Elemente eines komplexen Systems integrieren. Sie haben die qualitative Dynamik gefunden und bieten eine weitere Dimension des Verstehens dessen, was wir aus quantitativen Daten (kalte Daten) lernen. Mit Warm Data können wir unsere Analyse anderer Informationsströme nutzen. Die Auswirkungen der Verwendung warmer Daten sind erstaunlich und können den Instrumenten der Informationswissenschaft, mit denen wir derzeit arbeiten müssen, eine völlig neue Dimension verleihen.»  

Ich hatte das große Vergnügen, Noras Studentin in einem Kurs über «Warm Data Labs» zu sein. Während dieser Zeit beschäftigten wir uns intensiv mit systemischem Denken, indem wir uns mit der Theorie befassten und in unserer Lerngruppe selber Warm Data Labs (WDL) durchführten. 

In einem dieser WDLs war unser Thema «Lernen in einer sich verändernden Welt».  Ich saß in einer kleinen Gruppe von KollegInnen, um zu entdecken, was Lernen im Kontext von «Identität» bedeutet. Für ein paar Minuten habe ich der Gruppe gezeigt, dass sich meine Identität mein ganzes Leben lang durch ständiges Lernen und Entwickeln verändert hat – und wie sehr ich es liebe, mich zu verändern. Im Anschluss erwähnte jemand in meiner Gruppe jemanden, der kurz davor steht, seine Identität zu verlieren, weil sein Beruf aufgrund einer verschärften Klimapolitik aussterben wird – ein Minenarbeiter, dessen Familie seit Generationen in Kohlenminen arbeitet. Plötzlich fühlte ich mich zutiefst berührt.

«Plötzlich wurde mir bewusst, dass meine Argumentation von meiner eingeschränkten Denkweise herrührte, die auf sogenannten “Fakten” beruhte»  

Jahrelang hatte ich mich für eine wirksame Klimaschutzpolitik eingesetzt. Stets hatte ich auch argumentiert, dass der Bergbau gestoppt und die Bergarbeiter mit Kompensationszahlungen, Umschulungen usw. entschädigt werden sollten. Ich hatte mich verantwortungs- und sozial bewusst gefühlt, da ich doch die Notwendigkeit erkannt hatte, Klimaschutz gerecht zu gestalten. In diesem Warm Data Lab wurde mir plötzlich bewusst, dass meine Argumentation von meiner eingeschränkten Argumentationsweise herrührte, die auf sogenannten «Fakten» beruhte, auf kalten Daten.  Zum ersten Mal fühlte ich – anstatt nur zu bedenken -, dass es für einen Bergmann um seine Identität geht. Ich hatte Warm Data entdeckt – und konnte meine Tränen nicht zurückhalten.

«Es bedeutet, nicht mehr als Vertreter von Interessengruppen und aus unserem eigenen Glaubenssystem heraus mit vermeintlichen Fakten zu argumentieren.» 

Damit möchte ich nicht sagen, dass wir mit dem Kohleabbau weitermachen sollten – auf keinen Fall. Was ich sagen möchte ist, dass wir das System nur von innen verändern können, wenn wir in die verschiedenen Kontexte eintauchen, uns mit Menschen und anderen Kontexten von innen verbinden. Es bedeutet, nicht mehr als Vertreter von Interessengruppen und aus unserem eigenen Glaubenssystem heraus mit vermeintlichen Fakten zu argumentieren. Soziale, politische, wirtschaftliche, Bildungs-, Umwelt- und andere Organisationen können die Welt nur zum Besseren verändern, wenn sie die Warm Data, die «Wechselbeziehungen, die Elemente eines komplexen Systems integrieren», berücksichtigen.

«Um eine Verbindung zu einem komplexen System herzustellen, ohne die Schaltkreise der Abhängigkeiten zu unterbrechen, die ihm seine Integrität verleihen, müssen wir die Verteilung der Beziehungen untersuchen, die das System robust machen. Die ausschliessliche Analyse statistischer Daten liefert Schlussfolgerungen, die auf Aktionen hinweisen können, die nicht die volle Komplexität der Situation berücksichtigen. Informationen ohne Interrelationalität führen wahrscheinlich zu falsch informierten Handlungen, wodurch weitere destruktive Muster entstehen.» (2)

Um Organisationen und unsere Welt zum Besseren zu verändern, sollten wir aufhören, Komplexität zu reduzieren und einzelne Teile des Systems zu «reparieren». Wir sollten neue Formen der Information sammeln, in tiefere Dialoge eintauchen und den Raum zwischen den quantitativen Daten zugänglich machen. Es ist nicht alles in unseren Köpfen. Wir müssen mehr über die grundlegende «Vernetzung aller Dinge» (4) lernen.

Bist Du neugierig geworden und möchtest ein Warm Data Lab in Deiner Organisation durchführen?

Wenn Du und Deine Organisation daran interessiert sind ein Warm Data Lab zu veranstalten, um Eure Bemühungen hinsichtlich sozialer, politischer, gesundheitlicher, wirtschaftlicher, erzieherischer, umweltbezogener oder sonstiger Belange besser zu informieren, wende Dich an mich, um weitere Informationen zu erhalten: nicole@unusmundus-consult.ch 

Als zertifizierte Gastgeberin für Warm Data Labs führe ich diese auf Deutsch und auf Englisch durch.

 

Quellen & Anmerkungen:
(1) Nora Bateson setzt das bemerkenswerte Erbe ihres Vaters Gregory Bateson fort, eines Pioniers des evolutionären Systemdenkens
(2) International Bateson Institute (https://batesoninstitute.org)
(3) ebd.
(4) s. Douglas Adams, Dirk Gently’s Holistic Detective Agency 

Fachkräftemangel mit Vertrauen begegnen

Viele AbsoventInnen suchen nahezu verzweifelt nach Unternehmen, in denen sie ihre Kreativität und Leidenschaft initiativ einbringen können. Sie wünschen sich Arbeit, in der sie wahren Sinn erkennen. Traditionelle Organigramme und Unternehmenspolitik schrecken sie ab. Talentierte UniabgängerInnen suchen nach ArbeitgeberInnen, welche neben fachlichen Fähigkeiten auch individuelles Wachstum fördern. Unternehmen, welche diesen Trend erkennen und sich sowohl von althergebrachten Strukturen verabschieden als auch die persönliche Entwicklung ihrer Mitarbeitenden fördern, brauchen sich um Fachkräftemangel nicht zu sorgen. 

Letzte Woche hatte ich die Ehre und das grosse Vergnügen, die «Ignite Bewegung» an der Universität St. Gallen kennen zu lernen. Im Rahmen der zweitägigen «Ignite Konferenz» führte ich gemeinsam mit meiner Kollegin Maggie Lu einen fünfstündigen Workshop unter dem Titel «Unveil Yourself – Ways to Personal Growth and Transformation» mit rund 100 Teilnehmenden durch.

An der mit viel Liebe und Engagement durch StudentInnen organisierten Veranstaltung begegneten mir eine Reihe hoch talentierter und inspirierender junger Menschen. Viele von ihnen stehen an einem Punkt der Selbstreflexion und Sinnsuche, von dem meine Generation im selben Alter nur träumen konnte. Woran liegt das?

Gesellschaftlicher Wandel fördert individuelle Transformation

Meine Hypothese: Mit dem raschen gesellschaftlichen Wandel der letzten Jahre haben sich auch die Individuen weiter entwickelt. Während die früheren Generationen in erster Linie arbeiteten, um Geld zu verdienen, ihre Grundbedürfnisse zu sichern, ihre Familie zu ernähren und sich allenfalls ein Haus zu kaufen, ist die neue Generation auf der Maslow-Bedürfnispyramide einige Stufen nach oben geklettert. Generation Y geht es vermehrt darum, ihre Wachstumsbedürfnisse zu erfüllen. Sie fragt nach dem Sinn ihrer Arbeit, weniger nach den zu erklimmenden Stufen der Unternehmenshierarchie. Zudem haben die digital Natives in der vernetzten Informationsgesellschaft früher gelernt, mit Widersprüchen und Paradoxien umzugehen. Eine Eigenschaft, die Menschen mit fortgeschrittenem Grad der individuellen Handlungslogik (Ich-Entwicklung) auszeichnet.

Damit meine ich nicht, dass alle Menschen der jungen Generation diesbezüglich gleich sind. Fest steht jedoch, dass die folgende Generation der Fach- und Führungskräfte zunehmend nach persönlicher Entwicklung strebt. Die letzten Gallup-Studien zeigen, dass sich Mitarbeitende immer mehr wünschen:

  1. den Sinn ihrer Arbeit zu erkennen;
  2. ihre Fähigkeiten und ihr Talent voll auszunutzen, um das Beste von sich zu geben, ohne von einem engen Handlungsrahmen begrenzt zu werden;
  3. kontinuierlich lernen zu können;
  4. neue Aufgaben zu bekommen und sich weiterentwickeln zu können und
  5. für eine Firma zu arbeiten, die ihre Kultur und ihre Werte teilt.

Gleichzeitig fordern Unternehmenschefs, die unter Fachkräftemangel leiden, vermehrt leidenschaftliche und kreative Mitarbeitende, die Initiative ergreifen. Kreativität, Leidenschaft und Initiative erfordern Freiheit und Vertrauen statt enge Handlungsrahmen. Nicht ohne Grund gibt es bei Google 20% Kreativzeit für Mitarbeitende. In dieser Zeit können sie tun und lassen, was ihnen gefällt. Laut Great Place to Work® liegt Google auf Platz 1 der beliebtesten Arbeitgeber in der Schweiz.

Unternehmerischer Wandel erfordert individuelles Wachstum

In meiner Beratungspraxis begegnen mir immer wieder Menschen, die ihren erlernten Fähigkeiten mit grosser Begeisterung und mit Engagement nachgehen möchten, durch ein enges Korsett aus Vorgesetzten und Unternehmensstrukturen jedoch demotiviert sind. Lange Dienstwege verzögern oder verhindern Entscheidungen und frustrieren Mitarbeitende in den unteren Boxen der Organigramme. Die Zeiten, als jene Fachkräfte auf der untersten Hierarchiestufe «keine Ahnung vom Geschäft» hatten und nicht entscheiden konnten, sind längst vorbei. Bei motivierten Mitarbeitenden – auch in den untersten Hierarchiestufen gibt es sie – beobachte ich entsprechend eine starke Korrelation ihrer Motivation mit dem Mass an Vertrauen, das ihnen ihre Vorgesetzten entgegen bringen sowie mit der Freiheit, die sie am Arbeitsplatz geniessen.

Manager klagen über Fachkräftemangel. Es gibt bereits eine Reihe von Unternehmen, welche sich auf den Weg gemacht haben, ihre Strukturen an die Bedürfnisse der nächsten Generation anzupassen. Dies ist ein absolut notwendiger Schritt für jene Organisationen, welche im Wettlauf um die Fachkräfte mithalten wollen. Hinreichend und damit nachhaltig wird der Wandel dann, wenn diese Unternehmen auch ihr Menschenbild verändern.

Für eine erfolgreiche Änderung der Strukturen hin zu mehr Freiheit und Vertrauen braucht es gleichzeitig das individuelle Wachstum von Mitarbeitenden und Führungskräften. Vertrauen satt Misstrauen sowie der konstruktive Umgang mit Widersprüchen und Konflikten fällt der neuen Generation leichter. Doch noch sind längst nicht alle dazu in der Lage. Zudem braucht es auch eine erweiterte Handlungslogik der erfahrenen Fach- und Führungskräfte, damit sie nicht nur fachlich sondern auch zwischenmenschlich auf Augenhöhe mit dem Nachwuchs sind.

Sebastian Schmidt, deutscher Hoteldirektor und Sprecher an der «Ignite Konferenz» sagt: «Ich brauche meinen Chef, um mich energetisch aufzuladen.» Für Organisationen, die es schaffen, dass ihre Mitarbeitenden nach einem Gespräch mit ihrem Vorgesetzten mehr Energie haben als davor, ist der Fachkräftemangel ein Schrecken mit Ende.